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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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auf sie zukam und sie ansprach. »Der Mensch baut große Schiffe aus Eisen«, sagte der alte Mann, »aber das Meer ist stärker. Das Meer ist stärker als alles von Menschenhand Geschaffene.«
      Als sie wieder allein waren, sagte die Mutter: »Vergeßt nicht, was er gesagt hat. Das war ein weiser Alter.« Soweit er sich erinnern kann, war es das einzige Mal, daß sie das Wort weise benutzte; tatsächlich ist es das einzige Mal, soweit er sich erinnern kann, daß irgend jemand – außer in Büchern – das Wort benutzt hat. Aber es ist nicht nur das altmodische Wort, das ihn beeindruckt. Es ist möglich, Schwarze zu achten – das sagt sie damit. Das zu hören, es bestätigt zu bekommen, ist eine große Erleichterung.
      In den Geschichten, die den tiefsten Eindruck auf ihn gemacht haben, ist es der dritte Bruder, der bescheidenste und verachtetste, welcher der alten Frau hilft, ihre schwere Bürde zu tragen, oder welcher den Dorn aus der Pfote des Löwen zieht, nachdem der erste und der zweite Bruder verächtlich vorbeigegangen sind. Der dritte Bruder ist freundlich und ehrlich und mutig, während der erste und der zweite Bruder prahlerisch, hochmütig, lieblos sind. Zum Schluß der Geschichte wird der dritte Bruder gekrönt, während der erste und der zweite Bruder gedemütigt und fortgejagt werden.
      Es gibt Weiße und Farbige und Schwarze, und die Schwarzen sind davon die Niedrigsten und Verachtetsten. Die Parallele ist zwingend: die Schwarzen sind der dritte Bruder.
      In der Schule lernen sie, immer wieder, Jahr für Jahr, von Jan van Riebeeck und Simon van der Stel und Lord Charles Somerset und Piet Retief. Nach Piet Retief kommen die Kaffernkriege, als die Kaffern über die Grenzen der Kolonie strömten und zurückgeschlagen werden mußten; aber es gibt so viele Kaffernkriege, und sie sind so verwickelt und schwer auseinanderzuhalten, daß sie nicht Prüfungsstoff sind.
      Obwohl er bei Prüfungen die Geschichtsfragen richtig beantwortet, weiß er im Grunde seines Herzens nicht, warum Jan van Riebeeck und Simon van der Stel so gut waren, während Lord Charles Somerset so böse war. Ihm gefallen auch nicht die Anführer des Großen Trecks, wie es von ihm erwartet wird, ausgenommen vielleicht Piet Retief, der ermordet wurde, nachdem ihn Dingaan mit List dazu gebracht hatte, sein Gewehr nicht mit in den Kraal zu nehmen. Andries Pretorius und Gerrit Maritz und die anderen hören sich geradeso an wie die Lehrer in der Oberschule oder wie Afrikaaner im Radio: zornig, unerbittlich und voller Drohungen und Gerede über Gott.
      Den Burenkrieg behandeln sie nicht in der Schule, jedenfalls nicht in den Englischklassen. Es wird gemunkelt, daß man den Burenkrieg in den Afrikaansklassen bespricht, unter der Bezeichnung Tweede Vryheidsoorlog, der Zweite Befreiungskrieg, aber nicht als Prüfungsstoff. Da der Burenkrieg ein heikles Thema ist, steht er nicht offiziell auf dem Lehrplan. Sogar seine Eltern wollen nichts über den Burenkrieg sagen, darüber, wer recht hatte und wer unrecht.
      Seine Mutter wiederholt jedoch eine Geschichte vom Burenkrieg, die ihr die eigene Mutter erzählt hat. Als die Buren auf ihrer Farm eintrafen, verlangten sie Verpflegung und Geld und erwarteten, daß man sie bediente. Als die Briten kamen, schliefen sie im Stall, stahlen nichts, und ehe sie aufbrachen, bedankten sie sich höflich bei ihren Gastgebern.
      Die Briten mit ihren hochmütigen, arroganten Generälen sind die Schurken des Burenkriegs. Sie sind außerdem blöd, weil sie rote Uniformen tragen und so zu leichten Zielen für die Scharfschützen der Buren werden. Es wird erwartet, daß man sich bei Geschichten über den Burenkrieg auf die Seite der Buren schlägt, die gegen die Macht des britischen Empire für ihre Freiheit kämpfen. Er jedoch zieht es vor, die Buren nicht zu mögen, nicht nur wegen ihrer langen Barte und häßlichen Sachen, sondern auch weil sie sich hinter Felsen versteckten und aus dem Hinterhalt schossen, und die Briten zu mögen, weil sie zu Dudelsackklängen in den Tod marschierten.
      In Worcester sind die Engländer eine Minderheit, in Reunion Park eine verschwindende Minderheit. Außer ihm und seinem Bruder, die nur auf gewisse Weise englisch sind, gibt es nur zwei englische Jungen: Rob Hart und einen kleinen, drahtigen Jungen namens Billy Smith, dessen Vater bei der Bahn arbeitet und der eine Krankheit hat, bei der sich die Haut schuppt (die Mutter verbietet ihm, eins der Smith-Kinder

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