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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge
Autoren: J. M. Coetzee
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selbst beschäftigt, er schaut sie nicht an. Sein Körper ist vollkommen und unverdorben, als sei er erst gestern aus dem Ei geschlüpft. Solche Kinder, Jungen und Mädchen, ohne Zwang zur Schule zu gehen, denen es freisteht, weit weg von den wachsamen Augen ihrer Eltern umherzustreifen, die mit ihrem Körper anfangen können, was sie wollen – warum kommen sie nicht zusammen zu einem Fest der Sinnenfreude?
      Heißt die Antwort, daß sie zu unschuldig sind, um zu wissen, welche Vergnügungen es für sie gibt – daß nur finstere und schuldige Menschen solche Geheimnisse kennen?
      So ist es immer mit der Fragerei. Zuerst gehen die Fragen vielleicht in diese und jene Richtung; doch am Ende kehren sie unfehlbar zurück und konzentrieren sich auf ihn. Die Gedanken werden immer von ihm in Gang gesetzt; dann geraten diese Gedanken außer Kontrolle und kehren als Anklage gegen ihn zurück. Schönheit ist Unschuld; Unschuld ist Unwissenheit; Unwissenheit ist Unwissenheit in Fragen der Lust; Lust ist schuldig; er ist schuldig. Dieser Junge mit seinem frischen, unberührten Körper ist unschuldig, während er, beherrscht von seinen dunklen Begierden, schuldig ist. Auf diesem langen Pfad hat er sich wirklich dem Wort Perversion genähert, diesem Wort mit seinem dunklen, komplizierten Kitzel, das mit dem rätselhaften p beginnt, das alles bedeuten kann, dann geschwind über das rücksichtslose r zum rachsüchtigen v weiterstolpert.
      Nicht eine Anklage, sondern zwei. Die Anklagen kreuzen sich, und er ist im Zentrum des Fadenkreuzes, im Visier. Denn derjenige, der heute die Anklage gegen ihn vorbringt, ist nicht nur flink wie ein Reh und unschuldig, während er dunkel und schwer und schuldig ist – er ist auch ein Farbiger, und das bedeutet, er hat kein Geld, wohnt in einer armseligen Bruchbude, leidet Hunger; es bedeutet, daß dieser Junge, wenn die Mutter »Boy!« rufen und ihn heranwinken sollte, wozu sie durchaus in der Lage ist, sofort stehenbleiben und zu ihr kommen und tun müßte, was sie ihm möglicherweise befehlen würde (zum Beispiel ihren Einkaufskorb tragen), und am Ende ein Dreipennystück in seine hohlen Hände bekäme und dafür dankbar sein müßte. Und wenn er hinterher böse auf seine Mutter sein sollte, würde sie einfach lächeln und sagen: »Aber sie sind es nicht anders gewöhnt!«
      Also ist ihm dieser Junge, der unbewußt sein ganzes Leben lang auf dem Pfad der Natürlichkeit und Unschuld geblieben ist, der arm und deshalb gut ist, wie die Armen im Märchen immer, der schlank wie ein Aal und flink wie ein Hase ist und ihn mit Leichtigkeit in jedem Wettkampf besiegen würde, in dem es um Schnelligkeit der Füße oder Geschick der Hände ginge – dieser Junge, der für ihn einen lebenden Vorwurf darstellt, ist ihm trotzdem auf eine Weise Untertan, die ihn so sehr verstört, daß er sich krümmt und die Schultern hochzieht und ihn nicht länger ansehen will, trotz seiner Schönheit.
      Aber man kann ihn nicht so einfach abtun. Man kann vielleicht die Schwarzen abtun, aber nicht die Farbigen. Die Schwarzen kann man wegdiskutieren, weil sie Spätankömmlinge sind, vom Norden her eingedrungen, und kein Recht haben, hierzusein. Die Schwarzen, die man in Worcester sieht, sind zum überwiegenden Teil Männer in alten Armeemänteln, krumme Pfeifen rauchend, die in winzigen zeltähnlichen Hundehütten aus Wellblech an der Bahnstrecke wohnen, Männer, deren Stärke und Geduld legendär sind. Man hat sie hergebracht, weil sie nicht trinken, wie das Farbige tun, weil sie schwere Arbeit unter einer brennenden Sonne verrichten können, wo die leichter gebauten, unberechenbareren Farbigen zusammenbrechen würden. Es sind Männer ohne Frauen, die aus dem Nichts kommen und wieder ins Nichts geschickt werden können.
      Aber bei den Farbigen gibt es keine solche Lösung. Die Farbigen wurden von den Weißen gezeugt, von Jan van Riebeeck, mit den Hottentotten gezeugt – soviel ist klar, sogar in der verschleierten Sprache seines Geschichtslehrbuchs. Es ist bitter, aber es ist sogar noch schlimmer. Denn in Boland sind die Menschen, die man als Farbige bezeichnet, nicht die Ururenkel Jan van Riebeecks oder eines anderen Holländers.
      Er kennt sich gut genug in Physiognomie aus, und zwar schon solange er sich erinnern kann, um zu wissen, daß sie keinen Tropfen weißes Blut in den Adern haben. Es sind Hottentotten, rein und unverfälscht. Sie gehören nicht nur zum Land, das Land gehört ihnen, es ist ihr Land,
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