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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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ist es immer gewesen.

Neun
    Einer der Vorteile von Worcester, einer der Gründe, warum man hier, wie sein Vater sagt, angenehmer wohnt als in Kapstadt, ist das viel einfachere Einkaufen. Die Milch wird immer früh vor Tagesanbruch geliefert; man muß nur zum Telefonhörer greifen, und ein oder zwei Stunden später ist dann der Mann von Schochats Laden vor der Tür mit dem gewünschten Fleisch und den Lebensmitteln. So einfach ist das.
      Der Mann von Schochats Laden, der Lieferjunge, ist ein Schwarzer, der nur einige Worte Afrikaans und kein Englisch spricht. Er hat ein sauberes weißes Hemd an, eine Fliege, zweifarbige Schuhe und eine Bobby-Locke-Mütze. Er heißt Josias. Seine Eltern lehnen ihn als einen Vertreter der nichtsnutzigen neuen Generation von Schwarzen ab, die ihren ganzen Lohn für schicke Sachen ausgeben und überhaupt nicht an die Zukunft denken.
      Wenn die Mutter nicht zu Hause ist, nehmen er und sein Bruder die bestellten Waren von Josias entgegen, packen die Lebensmittel in das Küchenregal und das Fleisch in den Kühlschrank. Wenn Kondensmilch dabei ist, betrachten sie die als Beute. Sie schlagen Löcher in die Dose und saugen abwechselnd daran, bis sie leer ist. Wenn die Mutter nach Hause kommt, geben sie vor, es wäre keine Kondensmilch dabei gewesen, oder Josias hätte sie gestohlen.
      Er ist sich nicht sicher, ob sie ihnen die Lüge glaubt. Aber das ist ein Betrug, für den er sich nicht besonders schuldig fühlt.
      Die Nachbarn auf der Ostseite heißen Wynstra. Sie haben drei Söhne, einen älteren mit X-Beinen, der Gysbert heißt, und die Zwillinge Eben und Ezer, die noch zu klein für die Schule sind. Er und sein Bruder verspotten Gysbert Wynstra wegen seines komischen Namens und wegen der lahmen, unbeholfenen Art, in der er rennt. Sie kommen zum Schluß, daß er ein Idiot ist, geistig behindert, und erklären ihm den Krieg. Eines Nachmittags nehmen sie das halbe Dutzend der von Schochats Boy gelieferten Eier, schleudern sie auf das Hausdach der Wynstras und verstecken sich. Die Wynstras kommen nicht heraus, aber als die Sonne die zerschmetterten Eier trocknet, werden häßliche gelbe Flecken daraus.
      Das Vergnügen, ein Ei zu werfen, das so viel kleiner und leichter als ein Cricketball ist, es durch die Luft fliegen und sich überschlagen zu sehen, den weichen Aufprall zu hören, bleibt ihm noch lange gegenwärtig. Dieses Vergnügen mischt sich jedoch mit Schuldgefühlen. Er kann nicht vergessen, daß es Nahrungsmittel sind, mit denen sie spielen. Mit welchem Recht benutzt er Eier als Spielzeug? Was würde Schochats Boy sagen, wenn er merken würde, daß sie die Eier, die er den ganzen Weg aus der Stadt auf seinem Fahrrad hergebracht hatte, wegwerfen? Ihm schwant, daß Schochats Boy, der in Wirklichkeit überhaupt kein Boy, sondern ein erwachsener Mann ist, nicht so ausschließlich von seinem Äußeren samt Bobby-Locke-Mütze und Fliege in Anspruch genommen ist, daß es ihm nichts ausmachen würde. Ihm schwant, daß er es außerordentlich mißbilligen und auch nicht zögern würde, das zu sagen. »Wie könnt ihr das tun, wenn andere Kinder Hunger haben?« würde er in seinem mangelhaften afrikaans sagen; und darauf gäbe es keine Antwort. Vielleicht kann man anderswo auf der Erde mit Eiern werfen (er weiß zum Beispiel, daß sie in England Leute im Stock mit Eiern bewerfen); aber in diesem Land gibt es Richter, die nach den Maßstäben der Rechtschaffenheit richten werden. In diesem Land darf man nicht achtlos mit Nahrungsmitteln umgehen.
      Josias ist der vierte Schwarze, den er in seinem Leben kennengelernt hat. Der erste, der in seiner vagen Erinnerung den ganzen Tag mit einem blauen Schlafanzug herumlief, war der Junge, der immer die Treppen in dem Häuserblock wischte, wo sie in Johannesburg wohnten. Die zweite war Fiela in Plettenberg Bay, die ihre Wäsche wusch. Fiela war sehr schwarz und sehr alt und zahnlos und hielt in schönem, rollenden Englisch lange Reden über die Vergangenheit. Sie stammte aus St. Helena, sagte sie, wo sie Sklavin gewesen sei.
      Dem dritten Schwarzen begegnete er auch in Plettenberg Bay.
      Es hatte einen großen Sturm gegeben; ein Schiff war untergegangen; der Wind, der Tage und Nächte lang geweht hatte, fing gerade an, abzuflauen. Er war mit der Mutter und dem Bruder am Strand, um sich die Haufen von Strandgut und Tang anzusehen, die angespült worden waren, als ein alter Mann mit grauem Bart und Priesterkragen, einen Schirm in der Hand,

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