Der Junge
tote Bock ist, nicht größer als ein Pudel, weiß er, daß die Begründung falsch ist. Sie jagen bei Nacht, weil sie nicht gut genug sind, um etwas bei Tag zu erlegen.
Andererseits ist das Wild, in Essig eingelegt und dann mit Nelken und Knoblauch gebraten (er sieht zu, wie die Tante Schlitze in das dunkle Fleisch schneidet und es spickt), noch köstlicher als Lamm, würzig und zart, so zart, daß es im Mund zergeht. Alles in der Karoo ist köstlich, die Pfirsiche, die Wassermelonen, die Kürbisse, das Hammelfleisch, als wäre alles, was sein Auskommen in dieser kargen Erde findet, dadurch gesegnet.
Sie werden nie berühmte Jäger sein. Dennoch liebt er das Gewicht des Gewehrs in seiner Hand, das Geräusch ihrer Schritte auf dem grauen Flußsand, die Stille, die sich schwer wie eine Wolke herabsenkt, wenn sie stehenbleiben, und immer die sie umschließende Landschaft, die geliebte Landschaft in Ocker- und Grautönen, in Rehbraun und Olivgrün.
Am letzten Tag seines Besuchs darf er, wie es Brauch ist, die restlichen .22er Patronen aus seiner Schachtel verschießen und damit eine Blechbüchse auf einem Zaunpfahl zu treffen versuchen. Das ist eine schwierige Situation. Das geliehene Gewehr ist keine gute Waffe, er ist kein guter Schütze.
Während die Familie von der Veranda aus zusieht, feuert er hastig und trifft häufiger daneben als das Ziel.
Eines Morgens, als er allein draußen im Flußbett ist und muisvoels jagt, klemmt die .22er. Es gelingt ihm nicht, die Patronenhülse zu entfernen, die im Verschluß feststeckt. Er geht mit dem Gewehr zum Haus zurück, aber Onkel Son und der Vater sind draußen im Veld. »Frag Ros oder Freek«, schlägt die Mutter vor. Er findet Freek im Stall. Freek will jedoch das Gewehr nicht anfassen. Mit Ros geht es ihm genauso, als er Ros findet. Obwohl sie keine Erklärungen abgeben wollen, scheinen sie eine Heidenangst vor Gewehren zu haben. Er muß daher warten, bis der Onkel kommt und die Patronenhülse mit seinem Taschenmesser entfernt. »Ich habe Ros und Freek gebeten«, beklagt er sich beim Onkel, »aber sie wollten nicht helfen.« Der Onkel schüttelt den Kopf. »Du darfst sie nicht bitten, Gewehre anzufassen«, sagt er. »Sie wissen, daß sie das nicht dürfen.«
Sie dürfen es nicht. Warum nicht? Keiner will es ihm sagen.
Aber er brütet über den Worten nicht dürfen. Auf der Farm hört er sie häufiger als sonst irgendwo, sogar noch häufiger als in Worcester. Seltsame Worte. »Das darfst du nicht anfassen.«
»Das darfst du nicht essen.« Wäre das der Preis dafür, wenn er nicht mehr zur Schule ginge und darum bäte, hier auf der Farm leben zu dürfen – müßte er dann aufhören, Fragen zu stellen, alle Verbote befolgen und tun, was ihm befohlen würde? Wäre er bereit, sich dem zu fügen und diesen Preis zu zahlen? Gibt es denn keine Möglichkeit, in der Karoo zu leben – dem einzigen Ort auf der Welt, wo er sein möchte –, so wie er will: ohne einer Familie anzugehören?
Die Farm ist riesengroß, so groß, daß er erstaunt ist, als er und der Vater an einem Zaun quer durch das Flußbett ankommen und der Vater erklärt, sie hätten die Grenze zwischen Voelfontein und der nächsten Farm erreicht. In seiner Vorstellung ist Voelfontein ein eigenständiges Königreich. Ein einziges Leben bietet nicht genug Zeit, ganz Voelfontein kennenzulernen, jeden Stein und Busch. Keine Zeit ist ausreichend, wenn man einen Ort mit solch verzehrender Liebe liebt.
Am vertrautesten ist ihm Voelfontein im Sommer, wenn es flach ausgebreitet unter einem gleichmäßigen, blendenden Licht liegt, das vom Himmel herabströmt. Aber Voelfontein hat auch seine Geheimnisse, Geheimnisse, die nicht zu Nacht und Schatten gehören, sondern zu heißen Nachmittagen, wenn Trugbilder am Horizont tanzen und sogar die Luft in seinen Ohren singt. Wenn dann alle anderen, betäubt von der Hitze, vor sich hin dösen, kann er auf Zehenspitzen aus dem Haus schleichen und auf den Hügel zum Labyrinth der von Steinmauern umringten Krale steigen, die aus der alten Zeit stammen, als die Schafe zu Tausenden aus der Steppe zusammengetrieben werden mußten, um gezählt oder geschoren oder gedippt zu werden. Die Kralmauern sind zwei Fuß dick und überragen ihn; sie bestehen aus flachen, blaugrauen Steinen, die alle per Eselskarren herangeschafft wurden. Er versucht, sich die Schafherden vorzustellen, jetzt tot und verschwunden, die sich einst vor der Sonne in den Schutz dieser
Weitere Kostenlose Bücher