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Der Junge

Der Junge

Titel: Der Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
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außer der Zeitung nichts liest, kann er sich nicht als Jungen vorstellen, der Gedichte liest. Er kann sich den Vater in diesem Alter nur Späße machend, lachend und heimlich hinterm Gebüsch Zigaretten rauchend vorstellen.
      Er beobachtet den Vater beim Zeitunglesen. Er liest schnell, nervös, blättert durch die Seiten, als suche er etwas, das nicht da ist, er raschelt mit den Seiten und schlägt sie geräuschvoll um. Wenn er mit der Lektüre fertig ist, faltet er die Zeitung klein zusammen und widmet sich dem Kreuzworträtsel.
      Auch die Mutter verehrt Shakespeare. Sie hält Macbeth für Shakespeares größtes Stück. »Wenn der Meuchelmord aussperren könnt’ aus seinem Netz die Folgen«, schnurrt sie herunter und hält inne; »und nur Gelingen aus der Tiefe zöge«, fährt sie fort und nickt mit dem Kopf, um das Versmaß einzuhalten. »Alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen«, fügt sie hinzu. Macbeth war das Stück, das in der Schule behandelt wurde; der Lehrer stand immer hinter ihr und zwickte sie in den Arm, bis sie den ganzen Monolog aufgesagt hatte. »Kom nou, Vera!« sagte er immer – »Weiter!« – und kniff sie, und sie brachte dann noch ein paar Worte heraus.
      Obwohl die Mutter so dumm ist, daß sie ihm nicht bei den Hausaufgaben der Klasse Vier helfen kann, ist ihr Englisch makellos, besonders, wenn sie schreibt, das versteht er nicht.
      Sie gebraucht die Worte im richtigen Sinn, ihre Grammatik ist tadellos. Sie ist in der Sprache heimisch, das ist ein Bereich, wo sie nicht verunsichert werden kann. Wie ist das gekommen? Ihr Vater war Piet Wehmeyer, ein eindeutiger Afrikaans-Name. Im Fotoalbum sieht er in seinem kragenlosen Hemd und dem breitkrempigen Hut wie jeder gewöhnliche Farmer aus. Im Uniondale-Bezirk, wo sie zu Hause waren, gab es keine Engländer; die Nachbarn schienen alle Zondagh geheißen zu haben. Ihre Mutter war eine geborene Marie du Biel, mit deutschen Eltern, die keinen Tropfen englischen Bluts in den Adern hatten. Doch als sie Kinder bekam, gab sie ihnen englische Namen – Roland, Winifred, Ellen, Vera, Norman, Lancelot – und sprach mit ihnen zu Hause Englisch.
      Wo konnten die beiden, sie und Piet, nur Englisch gelernt haben?
      Das Englisch des Vaters ist fast genauso gut, obwohl in seinem Akzent mehr als eine Spur Afrikaans hörbar ist und er »thirty« wie »thutty« ausspricht. Der Vater blättert ständig in der Taschenausgabe des »Oxford English Dictionary«, wenn er seine Kreuzworträtsel löst. Er scheint jedes Wort darin wenigstens ungefähr zu kennen, auch jede Redewendung. Die verrückteren Wendungen spricht er mit Vergnügen aus, als präge er sie sich ein: pitch in (einspringen), come a cropper (auf die Nase fallen).
      Er selbst kommt bei Shakespeare nur bis zum Coriolanus.
      Abgesehen von der Sportseite und den Comics langweilt ihn die Zeitung. Wenn er sonst nichts zu lesen hat, liest er in den grünen Büchern. »Bring mir ein grünes Buch!« ruft er der Mutter von seinem Krankenbett aus zu. Die grünen Bücher sind die Bände von Arthur Mees Enzyklopädie für Kinder, die mit ihnen gereist sind, solange er denken kann. Er hat sie schon sehr oft durchgenommen; als er noch klein war, hat er Seiten herausgerissen, mit Buntstiften darin herumgekrakelt, den Einband kaputt gemacht, so daß die Bände nun mit äußerster Vorsicht behandelt werden müssen.
      Er liest nicht wirklich in den grünen Büchern – der Stil, in dem sie verfaßt sind, macht ihn ungeduldig, er ist zu überschwenglich und kindisch, ausgenommen die zweite Hälfte von Band 10, der Index, der voll sachlicher Informationen steckt. Aber er verweilt lange bei den Abbildungen, besonders den Fotos von Marmorstatuen, nackten Männern und Frauen mit Tuchfähnchen um die Lenden. Glatte, schlanke Marmormädchen bevölkern seine erotischen Träume.
      Das Überraschende an seinen Erkältungen ist, wie schnell sie vorübergehen oder scheinbar vorübergehen. Um elf hat das Niesen aufgehört, ist der Brummschädel verschwunden, es geht ihm gut. Er hat genug vom verschwitzten, unangenehm riechenden Schlafanzug, von den muffigen Decken und der durchgelegenen Matratze, von den feuchten Taschentüchern überall. Er steht auf, zieht sich aber nicht an – das hieße, sein Glück zu sehr auf die Probe stellen. Er gibt acht, daß er sich nicht draußen zeigt, damit ihn kein Nachbar oder jemand, der vorbeikommt, verrät, und spielt mit dem Meccano-Baukasten

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