Der Junge
Stunde im Freien hat man feinen roten Staub im Haar, in den Ohren, auf der Zunge.
Er ist gesund, voller Leben und Energie, scheint aber immer erkältet zu sein. Morgens wacht er mit Halsschmerzen und roten Augen auf, niest unbeherrscht, seine Temperatur steigt heftig und fällt dann wieder. »Ich bin krank«, krächzt er seiner Mutter zu. Sie legt ihm den Handrücken auf die Stirn. »Dann mußt du natürlich im Bett bleiben«, seufzt sie.
Ein schwieriger Moment muß noch überwunden werden, der Moment, wenn sein Vater fragt: »Wo ist John?« und die Mutter sagt: »Er ist krank«, und der Vater schnaubt und sagt: »Spielt er wieder mal den Kranken.« Das übersteht er, indem er, so ruhig er kann, daliegt, bis der Vater fort ist und der Bruder fort ist und er es sich schließlich bei einem Lesetag gemütlich machen kann.
Er liest mit großer Geschwindigkeit und völliger Hingabe.
Während seiner Krankheitsanfälle muß seine Mutter zweimal die Woche in die Bücherei, um für ihn Bücher auszuleihen – zwei auf ihre Karte, zwei weitere auf seine. Er selbst meidet die Bücherei, falls es dem Bibliothekar einfallen sollte, Fragen zu stellen, wenn er die Bücher zum Stempeln zurückbringt.
Er weiß, wenn er ein großer Mann sein will, sollte er ernsthafte Bücher lesen. Er sollte wie Abraham Lincoln oder James Watt sein und bei Kerzenschein studieren, während alle anderen schlafen, er sollte sich Latein und Griechisch und Astronomie beibringen. Den Gedanken, ein großer Mann zu sein, hat er nicht aufgegeben; er verspricht sich, daß er bald mit der ernsthaften Lektüre beginnen wird; doch momentan will er nichts als Geschichten lesen.
Er liest alle Krimis von Enid Blyton, alle Geschichten von den Hardy Boys, den jugendlichen Detektiven, alle Kriegsgeschichten über den Jagdflieger Biggles. Aber die Bücher, die ihm am besten gefallen, sind die Geschichten über die Französische Fremdenlegion von P. C. Wren. »Wer ist der größte Schriftsteller auf der Welt?« fragt er den Vater. Sein Vater sagt, Shakespeare. »Warum nicht P. C. Wren?« fragt er.
Sein Vater hat P. C. Wren nicht gelesen und scheint sich trotz seines soldatischen Vorlebens nicht für diese Lektüre zu interessieren. »P. C. Wren hat sechsundvierzig Bücher geschrieben. Wieviele Bücher hat Shakespeare geschrieben?« fragt er herausfordernd und fängt mit der Aufzählung von Titeln an. Der Vater äußert gereizt und abweisend »Aah!«, hat aber keine Antwort parat.
Wenn dem Vater Shakespeare gefällt, dann muß Shakespeare schlecht sein, schlußfolgert er. Trotzdem fängt er an, Shakespeare zu lesen, in der Ausgabe mit den vergilbenden Seiten und ausgefransten Rändern, die sein Vater geerbt hat und die vielleicht sehr wertvoll ist, weil sie so alt ist. Er versucht zu entdecken, warum die Leute sagen, Shakespeare sei groß. Er liest Titus Andronicus wegen des römischen Namens, dann Coriolanus, wobei er die langen Reden überspringt, wie er die Naturbeschreibungen in seinen Bücherei-Büchern überspringt.
Außer Shakespeare besitzt sein Vater noch die Gedichte von Wordsworth und die Gedichte von Keats. Seine Mutter besitzt die Gedichte von Rupert Brooke. Diese Gedichtbände zieren den Kaminsims im Wohnzimmer, zusammen mit Shakespeare, mit der Geschichte von San Michele in einem Lederschuber und mit einem Buch von A. J. Cronin über einen Arzt.
Zweimal versucht er Die Geschichte von San Michele zu lesen, doch es langweilt ihn. Er bekommt nie heraus, wer Axel Munthe ist, ob das Buch wahr oder erfunden ist, ob es von einem Mädchen oder von einem Ort handelt.
Eines Tages kommt der Vater mit der Wordsworth-Ausgabe in sein Zimmer. »Die Gedichte solltest du lesen«, sagt er und zeigt ihm Gedichte, die er mit Bleistift angekreuzt hat. Einige Tage später kommt er wieder und will mit ihm über die Gedichte sprechen. »Der tönende Wasserfall verfolgte mich wie eine Leidenschaft«, zitiert der Vater. »Das ist große Dichtkunst, nicht wahr?« Er murmelt etwas, will seinen Vater nicht anblicken, will nicht auf sein Spiel eingehen. Es dauert nicht lange, bis der Vater aufgibt.
Sein abweisendes Benehmen tut ihm nicht leid. Er kann nicht erkennen, wie Poesie in das Leben seines Vaters hineinpaßt; er argwöhnt, daß es nur Schau ist. Wenn die Mutter sagt, sie hätte ihr Buch nehmen und sich in die Dachkammer schleichen müssen, um dem Gespött ihrer Schwestern zu entkommen, glaubt er ihr. Aber den Vater, der heute
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