Der Junge
Blick in Sons Augen, wenn er in der Nähe ist, an dem gezwungenen Ton in der Stimme. Wenn Son ihn wirklich gern haben würde, dann ginge er genauso frei und ungezwungen mit ihm um wie mit Ros und Freek. Statt dessen paßt Son genau auf, daß er immer Englisch mit ihm spricht, auch wenn er auf Afrikaans antwortet. Für sie beide ist es inzwischen eine Frage der Ehre; sie wissen nicht, wie sie aus der Falle herauskommen können.
Er sagt sich, daß dieses Mißfallen nicht ihm persönlich gilt, daß es nur da ist, weil er, der Sohn von Sons jüngerem Bruder, älter ist als Sons eigener Sohn, der noch ein Baby ist. Doch er befürchtet, daß dieses Gefühl tiefere Wurzeln hat, daß Son ihn nicht mag, weil er sich mit der Mutter, diesem Eindringling, verbündet hat statt mit dem Vater; und auch deshalb, weil er nicht aufrichtig, ehrlich, wahrheitsliebend ist.
Wenn er zwischen Son und seinem eigenen Vater als Vater wählen dürfte, dann würde er sich für Son entscheiden, selbst wenn das bedeutete, daß er unwiderruflich zu den Afrikaanern gehören würde und Jahre im Fegefeuer einer Afrikaansinternatsschule zubringen müßte, wie alle anderen Farmkinder, ehe er auf die Farm zurückkommen dürfte.
Vielleicht ist das der tiefere Grund dafür, warum Son ihn nicht mag – er spürt den unverständlichen Anspruch, den dieses seltsame Kind auf ihn erhebt, und weist ihn zurück wie ein Mann, der sich vom Klammergriff eines Kleinkinds befreit.
Er beobachtet Son unablässig, bewundert das Geschick, mit dem er alles tut, vom Verarzten eines kranken Tiers bis zum Reparieren einer Windpumpe. Besonders fasziniert ihn sein Wissen über Schafe. Durch bloßes Betrachten eines Schafes kann Son nicht nur sein Alter und seine Abstammung angeben und die Wollmenge, die es erzielen wird, sondern auch, wie jeder Teil seines Körpers schmecken wird. Er kann ein Schlachtschaf danach auswählen, ob es die richtigen Rippen zum Grillen hat oder die richtige Keule zum Braten.
Er selber ißt gern Fleisch. Ungeduldig erwartet er das Bimmeln der Glocke zu Mittag und das gewaltige Mahl, das es ankündigt: Schüsseln mit Bratkartoffeln, gelben Reis mit Rosinen, süße Kartoffeln mit Karamelsoße, Kürbis mit braunem Zucker und weichen Brotwürfeln, süßsaure Bohnen, Rote-Bete-Salat und als Mittelpunkt eine große Platte mit Hammelfleisch und Bratensoße zum Darübergießen. Aber nachdem er Ros beim Schlachten von Schafen zugesehen hat, meidet er rohes Fleisch. Daheim in Worcester geht er lieber nicht in Fleischerläden. Die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der der Fleischer ein Stück Fleisch auf den Ladentisch wirft, es aufschneidet, in Packpapier wickelt und einen Preis darauf schreibt, stößt ihn ab. Wenn er das schrille Heulen der Bandsäge beim Durchtrennen von Knochen hört, möchte er die Ohren verschließen. Es macht ihm nichts aus, Leber anzuschauen, deren Funktion im Körper unklar ist, doch er wendet die Augen ab von den Herzen in der Verkaufsvitrine, und besonders von den Tabletts mit Kutteln. Sogar auf der Farm weigert er sich, Kutteln zu essen, obwohl sie als große Delikatesse gelten.
Er versteht nicht, warum Schafe ihr Schicksal hinnehmen, warum sie nie aufbegehren, sondern demütig in den Tod gehen. Wenn wilde Böcke wissen, daß es nichts Schlimmeres auf Erden gibt, als in die Hände des Menschen zu fallen, und bis zum letzten Atemzug zu entkommen suchen, warum sind dann Schafe so einfältig? Es sind doch schließlich Tiere, sie haben die scharfen Sinne von Tieren – warum hören sie nicht das letzte Blöken des Opfers hinterm Schuppen, riechen sein Blut und merken es sich?
Manchmal wenn er unter den Schafen ist – wenn man sie zum Dippen zusammengetrieben hat und sie eingepfercht sind und nicht fort können –, möchte er ihnen etwas zuflüstern, sie davor warnen, was sie erwartet. Doch dann entdeckt er in ihren gelben Augen ein gewisses Etwas, was ihn verstummen läßt: eine Resignation, ein Bescheidwissen nicht nur darüber, was Ros den Schafen hinter dem Schuppen antut, sondern auch darüber, was sie am Ende einer langen Durstfahrt auf einem Viehtransporter nach Kapstadt erwartet. Sie wissen das alles, bis ins kleinste, und doch fügen sie sich. Sie haben den Preis bedacht und sind bereit, ihn zu zahlen – den Preis dafür, auf der Erde zu sein, den Preis dafür, am Leben zu sein.
Zwölf
In Worcester weht immer der Wind, schwach und kalt im Winter, heiß und trocken im Sommer. Nach einer
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