Der Junge
ist sich seines auf die Seite gerollten Körpers bewußt, seiner vor der Brust geballten Fäuste. In dieser Stille versucht er, sich seinen Tod vorzustellen. Er verabschiedet sich von allem – von der Schule, vom Zuhause, von der Mutter; er versucht, sich vorzustellen, wie sich die Tage ohne ihn abspulen. Aber es gelingt ihm nicht. Es bleibt immer etwas übrig, etwas Kleines und Schwarzes, wie eine Nuß, wie eine Eichel, die im Feuer gewesen ist, trocken, aschig, hart, unfähig zu wachsen, aber vorhanden. Er kann sich vorstellen, wie er stirbt, doch er kann sich nicht vorstellen, wie er verschwindet. Er mag es noch so sehr versuchen, er kann den letzten Rest von sich nicht auslöschen.
Was ist es, das seine Existenz stützt? Ist es Angst vor der Trauer seiner Mutter, eine so große Trauer, daß er es nicht ertragen kann, länger als den Bruchteil einer Sekunde daran zu denken? (Er sieht sie in einem kahlen Raum schweigend dastehen, mit den Händen vor den Augen; dann läßt er die Jalousie herunter, verdeckt ihr Bild.) Oder gibt es noch etwas in ihm, das nicht sterben will?
Er erinnert sich an das andere Mal, als er in die Enge getrieben wurde, damals als die beiden Afrikaanerjungen ihm die Hände auf den Rücken drehten und ihn hinter den Erdwall am Ende des Rugby-Platzes abführten. Er erinnert sich speziell an den größeren von beiden, so fett, daß die Speckfalten aus seinen engen Sachen quollen – einer dieser Idioten oder Fast-Idioten, die dir mit solcher Leichtigkeit, als drehten sie einem Vogel den Hals um, die Finger brechen oder die Luftröhre zerquetschen und dabei ruhig lächeln können. Er hatte Angst gehabt, das stand außer Frage, sein Herz hatte gehämmert.
Aber wie echt war diese Angst gewesen? War da nicht, als er mit seinen Schergen über den Platz stolperte, etwas tiefer in ihm, etwas recht Keckes, das sagte: »Keine Sorge, dir geschieht nichts, das ist bloß wieder mal ein Abenteuer«?
Dir geschieht nichts, es gibt nichts, wozu du nicht imstande bist. Das sind die beiden Dinge über ihn, zwei Dinge, die eigentlich eine Einheit sind, das, was mit ihm stimmt und was gleichzeitig nicht stimmt mit ihm. Das Ding, das zwei Seiten hat, bedeutet, daß er nicht sterben wird, egal was geschieht; aber bedeutet es nicht auch, daß er nicht leben wird?
Er ist ein Baby. Die Mutter hebt ihn hoch, indem sie ihm von hinten unter die Arme greift. Seine Beine baumeln, der Kopf sinkt nach vorn, er ist nackt; aber die Mutter hält ihn vor der Brust und schreitet in die Welt hinein. Sie braucht nicht zu sehen, wo sie hingeht, sie braucht nur zu folgen. Während sie voranschreitet, erstarrt alles zu Stein und zerfällt. Er ist nur ein Baby mit einem dicken Bauch und einem baumelnden Kopf, aber er hat diese Macht.
Dann ist er eingeschlafen.
Vierzehn
Aus Kapstadt kommt ein Anruf. Tante Annie ist auf der Treppe ihrer Wohnung in Rosebank gestürzt. Mit einer gebrochenen Hüfte hat man sie ins Krankenhaus gebracht; jemand muß hinfahren und sich um sie kümmern.
Es ist Juli, mitten im Winter. Über dem ganzen Westkap liegt eine Kälte- und Regenfront. Sie nehmen den Frühzug nach Kapstadt, er, seine Mutter und sein Bruder, dann einen Bus, der die Kloof Street hinauf zum Volkshospitaal fährt. Tante Annie, in ihrem geblümten Nachthemd winzig wie ein Baby, ist in der Frauenstation. Die Station ist voll belegt – alte Frauen mit bösen, abgehärmten Gesichtern schlurfen in Morgenmänteln herum und zischeln vor sich hin; fette, schlampige Frauen mit ausdruckslosen Gesichtern sitzen auf den Bettkanten und lassen unbekümmert die Brust raushängen.
Aus einem Lautsprecher in der Ecke hört man Springbok Radio. Drei Uhr, das Wunschprogramm am Nachmittag:
»Wenn irische Augen lächeln« mit Nelson Riddle und seinem Orchester.
Tante Annie packt den Arm seiner Mutter mit runzliger Hand. »Ich will hier raus, Vera«, flüstert sie heiser. »Das hier ist nichts für mich.«
Die Mutter tätschelt ihre Hand, versucht sie zu beruhigen, auf dem Nachtschränkchen ein Glas Wasser für das Gebiß der Tante und eine Bibel.
Die Stationsschwester sagt ihnen, daß die gebrochene Hüfte gerichtet ist. Tante Annie wird noch einen Monat im Bett bleiben müssen, bis der Knochen wieder zusammengewachsen ist. »Sie ist nicht mehr die Jüngste, es braucht seine Zeit.«
Danach wird sie eine Krücke benutzen müssen.
Später fügt die Schwester noch hinzu, daß die Zehennägel von Tante Annie
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