Der Junge
oder ordnet Briefmarken in sein Album, fädelt Knöpfe auf oder flicht Kordeln aus übriggebliebenen Wollsträngen. Seine Schublade ist voller geflochtener Kordeln, die zu nichts taugen, außer zu Gürteln für den Morgenmantel, den er nicht besitzt. Wenn die Mutter in sein Zimmer kommt, versucht er, so elend wie nur möglich auszusehen, und wappnet sich gegen ihre spitzen Bemerkungen.
Alle verdächtigen ihn, daß er nur schauspielert. Er kann seine Mutter nie davon überzeugen, daß er wirklich krank ist; wenn sie seinen Bitten nachgibt, tut sie es unwillig und nur, weil sie ihm nichts abschlagen kann. Seine Schulkameraden halten ihn für einen Weichling und ein Muttersöhnchen.
Doch die Wahrheit ist, daß er oft morgens aufwacht und um Luft ringt; Niesanfälle schütteln ihn minutenlang, bis er keucht und weint und sterben möchte. Diese Anfälle sind nicht gespielt.
Die Vorschrift besagt, daß man eine schriftliche Entschuldigung vorweisen muß, wenn man in der Schule gefehlt hat. Er kennt den Standardbrief seiner Mutter auswendig: »Entschuldigen Sie bitte Johns Fernbleiben gestern. Er hatte eine starke Erkältung, und ich hielt es für ratsam, daß er im Bett bleibt. Hochachtungsvoll.« Mit einem flauen Gefühl gibt er diese Briefe ab, die seine Mutter als Lügen schreibt und die als Lügen gelesen werden.
Wenn er zum Ende des Schuljahres die Tage seiner Abwesenheit zusammenzählt, hat er fast jeden dritten Tag gefehlt. Und trotzdem ist er immer noch Klassenerster. Er schlußfolgert daraus, daß nicht wichtig ist, was im Klassenzimmer vor sich geht. Er kann alles jederzeit zu Hause nachholen. Wenn es nach ihm ginge, würde er das ganze Jahr über fehlen und nur zu den Prüfungen erscheinen.
Seine Lehrer erzählen nichts, was nicht schon im Lehrbuch steht. Er blickt deshalb nicht auf sie herab, die anderen Jungen auch nicht. Ja, es gefällt ihm nicht, wenn immer mal wieder die Unwissenheit eines Lehrers deutlich wird. Wenn er könnte, würde er seine Lehrer beschützen. Aufmerksam lauscht er jedem ihrer Worte. Aber er lauscht weniger, um zu lernen, als um nicht beim Tagträumen erwischt zu werden (»Was habe ich gerade gesagt? Wiederhole, was ich gerade gesagt habe«), damit er nicht vor die Klasse treten muß und erniedrigt wird.
Er ist davon überzeugt, daß er anders, daß er etwas Besonderes ist. Warum er auf der Welt ist, weiß er noch nicht.
Er vermutet, daß er kein Artus oder Alexander sein wird, die schon zu Lebzeiten verehrt wurden. Ihn wird man erst würdigen, wenn er tot ist.
Er wartet auf seine Berufung. Wenn der Ruf kommt, wird er bereit sein. Ohne Zögern wird er ihm folgen, auch wenn er in den Tod gehen müßte, wie die britischen Kavalleristen der Light Brigade, die im Krimkrieg gegen russische Kanonen anritten.
Den Maßstab, an dem er sich mißt, ist der des VC, des Viktoria-Kreuzes. Nur die Engländer haben das VC. Die Amerikaner haben es nicht, zu seiner Enttäuschung auch die Russen nicht. Die Südafrikaner haben es ganz sicher nicht.
Es entgeht ihm nicht, daß VC die Initialen seiner Mutter sind.
Südafrika ist ein Land ohne Helden. Wolraad Woltemade würde vielleicht zu den Helden zählen, wenn er nicht so einen ulkigen Namen hätte. Immer wieder ins stürmische Meer hinauszuschwimmen, um unglückliche Seeleute zu retten, ist bestimmt mutig; aber wer war denn mutig, der Mann oder das Pferd? Bei dem Gedanken an Wolraad Woltemades Schimmel, der sich standhaft erneut in die Wellen stürzt (ihm gefällt der verstärkte Nachdruck von standhaft), hat er einen Kloß im Hals.
Vic Toweel kämpft gegen Manuel Ortiz um den Weltmeistertitel im Bantamgewicht. Der Kampf findet an einem Samstagabend statt; er bleibt lange auf, um mit seinem Vater die Rundfunkreportage zu hören. In der letzten Runde stürzt sich Toweel, schon blutend und erschöpft, auf seinen Gegner. Ortiz schwankt; die Menge rast, die Stimme des Reporters ist heiser vom Schreien. Die Kampfrichter verkünden ihr Urteil: Südafrikas Viccie Toweel ist der neue Weltmeister. Er und der Vater schreien vor Begeisterung und fallen sich in die Arme. Er weiß nicht, wie er seiner Freude Ausdruck geben soll. Unwillkürlich packt er die Haare des Vaters und zieht mit aller Kraft daran. Sein Vater fährt zurück und sieht ihn seltsam an.
Tagelang sind die Zeitungen voll Bilder vom Kampf. Viccie Toweel ist ein Nationalheld. Was ihn angeht, so schwindet die Begeisterung rasch. Er ist immer noch
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