Der Kaefig - Roman
gesehen, doch sie hatte gehört, dass es magische Lichter am Himmel waren.
Und sie hatte gehört, dass man sich einen Stern aussuchen und einen Wunsch äußern konnte.
Sie stand in der warmen Nachtluft. Ein sanfter Wind zog an ihrem Negligé. Die Luft flüsterte um ihre nackten Waden. Die Bodenfliesen fühlten sich unter ihren Füßen angenehm kühl an. Was, wenn ich mein Nachthemd ausziehen und mich auf den Boden legen würde? Dann würde
ich am ganzen Körper die kühlen harten Fliesen spüren. Das wäre wunderbar.
Wieder strich eine Brise über das Dach. Draußen im Canyon hörte sie die Bäume rascheln. Sie flüsterten eifrig miteinander.
»Was habt ihr gehört?«, fragte sie die Bäume. »Was geschieht heute Nacht?«
Wütend ballte sie die Fäuste.
Das war der Fluch der Einsamkeit.
Einsame Menschen sprachen mit sich selbst. Sie sprachen mit Haustieren. Sie sprachen mit ihrem Fernseher. Sie sprachen sogar mit Bäumen.
Aber wer ist denn hier, um mit mir zu reden? Ich bin ein blindes Mädchen. Ich lebe allein. Ich habe keine Freunde.
Was soll ich denn sonst tun?
»Du könntest dir bei einem Stern etwas wünschen.«
Kaum hatte sie diese unbedachte Bemerkung ausgestoßen, spürte sie, wie sich ihr Gesicht zu einem bitteren Lächeln verzog. Ja, das könnte sie tun. Es würde nicht schaden. Es würde aber auch nicht helfen. Nichts von dem, was sie tat, änderte etwas an ihrem Leben.
Einmal, als sie nichts hatte zum Guten ändern können, hatte sie beschlossen, dass wenigstens etwas Schlechtes geschehen sollte. Etwas, das die Eintönigkeit durchbrach. Sie hatte ein Messer aus dem Messerblock in der Küche gezogen und sich in den Finger geschnitten. So tief, dass sie gehört hatte, wie die Klinge über den Knochen schabte.
Also hatte sie jetzt die Auswahl. Sie konnte sich wieder schneiden.
Oder sich bei einem Stern etwas wünschen.
Sie ging bis zu der Mauer, die die Dachterrasse umgab und legte den Kopf in den Nacken. Versuchte, das Sternenlicht auf ihrem Gesicht zu spüren.
Da war nur kalte Luft, sonst nicht.
Die Sterne wären trotzdem dort oben. Für einen Augenblick erlaubte sie sich, an das Märchen zu glauben.
Wünsch dir was bei einem Stern. Dann werden Träume wahr.
»Ich wünsche … ich wünsche, dass heute Nacht jemand kommt. Jemand, der mein Leben für immer verändert. «
Die Brise frischte auf. Bäume rauschten, Äste knackten. Die Luft, die durch den Canyon blies, stöhnte so laut, dass sie erschrocken den Kopf wandte. Das Stöhnen klang menschlich.
Sie hatte sich noch nicht wieder richtig gesammelt, als sie einen Moment der Gewissheit erlebte.
Jemand wir heute Nacht kommen. Er wird mein Leben verändern.
Die Kraft dieser Vorahnung überraschte sie.
Ja.
Es würde jemand kommen.
Und wenn er kam, würde sich alles ändern.
»Bitte«, flüsterte sie der Brise zu. »Komm bald.«
43
Nachts kommen sie alle aus ihren Löchern …
Das sagte sich Grace, als sie in ihrem Pick-up auf dem Parkplatz einen ungebetenen Gast nach dem anderen bekamen.
Zuerst hatte eine deutsche Nutte an die Scheibe geklopft.
Aus hundert Metern Entfernung hatte sie toll ausgesehen. Schlanke Figur. Lange Beine. Groß, blonde Haare. Kurzer Rock.
Aber aus der Nähe?
Wi-der-lich.
Als hätte sie jemand aus ihrem Sarg gezerrt.
Ihre Zähne waren genauso gelb wie das Weiße ihrer Augen. Sie hatte versucht, die Herpesbläschen an den Lippen mit einem grässlichen pinkfarbenen Lippenstift zu überdecken. Ihr Hals war verschrumpelt wie ein Hodensack.
»Lust auf eine Nummer?«
»Bitte?«, fragte Cody.
»Willst du eine Nummer schieben?«
»Ich glaub nicht …«
»Vielleicht einen Dreier mit deiner Freundin da. Ich kann’s euch beiden gleichzeitig besorgen, ja?«
»Nein, tut mir leid, wir wollen nur hier übernachten.«
»Hier auf dem Parkplatz schlafen?«
»Ja.«
»Viel Glück, Süßer.« Sie schüttelte verächtlich den Kopf. »Du wirst es brauchen.«
Dann ging sie mit wiegenden Hüften davon. Die Rückseiten ihrer Beine waren mit blauen Flecken übersät.
Als Nächstes tauchte ein cooler Mexikaner auf.
»Hey, Leute.« Er zog an seiner Zigarette. »Womit kann ich dienen? Hasch, Koks oder lieber einen Druck?«
»Wir möchten nichts, danke«, sagte Cody höflich wie immer. Er war nie auf Ärger aus.
»Wie du willst, Kumpel.« Der Mexikaner zuckte mit den Schultern. »Dann genieß die Aussicht.«
Als es langsam ein Uhr wurde, herrschte ein großes Kommen und Gehen. Nutten, Stricher, Dealer.
Ein Basar
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