Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
der Gipfel der Weltläufigkeit erschienen sein, eine schöne Diebin, eine angebliche britische Agentin, nachts auf der Straße in Paris zu treffen, mit einem Glas Wein in der Hand.
Ich schluckte die Erinnerung an das, was sie getan hatte und womöglich immer noch tat, hinunter, und als sie mir das Weinglas reichte, nahm ich es und trank es aus.
W ieder in London
E nde November kehrte ich nach London zurück. Die Straßen der Stadt waren feucht und sahen bei Tageslicht trostlos und schmuddelig aus. Doch nachts glitzerten die Fenster der Wohnungen wie die Lichter eines Schiffs auf dunklem Wasser und erweckten den Eindruck flüssiger Bewegung. Nach Jahren der Verdunkelung, die ich nur vom Hörensagen kannte, wirkten die Lichter wie Festbeleuchtung.
Selbst die Straßenlampen feierten mit und glitzerten auf der Straße wie Spiegelbilder in einem Teich. Im häufigen spätherbstlichen Nebel schien alles einen halben Meter über dem Erdboden zu schweben – Kirchen, Häuser, Menschen.
Mein Arbeitgeber und ich trafen uns zum Mittagessen im Cheshire Cheese.
«Es heißt, Samuel Johnson habe hier oft diniert», flüsterte Sir Andrew mir zu. Ich mußte mich über den Tisch beugen, um seine Worte zu verstehen.
Er wollte mich per Flugzeug nach Prag schicken, aber von dort würde ich mit der Bahn nach Warschau, meinem eigentlichen Ziel, weiterreisen müssen. In Prag sollte ich einige Stunden mit einem tschechischen Journalisten verbringen, den er ein-, zweimal in London getroffen hatte.
«Er ist mit einer Engländerin verheiratet, deren Name mir entfallen ist. Na ja, Sie müssen ja auch nur ein paar Stunden mit ihm verbringen … da müssen Sie ihren Namen nicht wissen.» Er starrte nachdenklich auf seinen Teller und fuhr dann zögernd fort, als würde er mir die Informationen nur ungern geben: «Seine erste Frau wurde von den Nazis umgebracht. Sie waren natürlich beide extrem politisch, allerdings habe ich von einem Burschen bei Reuters gehört, daß Jan sich seit dem Krieg und seinen, ähm, Verlusten ungeheuer verändert hat.» Er reichte mir eine Karte. «Ich habe seinen Nachnamen in Lautschrift notiert, damit Sie ihn aussprechen können, falls er nicht am Flughafen auftaucht. In dem Fall könnten Sie sich vielleicht bis zu seiner Wohnung durchschlagen.»
Ich bemerkte seine schmutzigen Hemdmanschetten und die Schuppen, die auf die Schultern seines dunklen Anzugs gerieselt waren. Ich hatte den Ploughman’s Lunch bestellt, wie die kalte Platte im Cheshire Cheese genannt wurde, und meine Portion nicht aufessen können.
«Dann reisen Sie weiter nach Warschau, mit dem Zug, der gegen Mitternacht aus Prag abfährt», fuhr er fort. «Zuerst haben die Nazis Warschau besetzt, dann die Russen. Jetzt halten die Polen ihre ersten Wahlen ab. Nun ja, Sie werden nicht direkt darüber berichten, aber schicken Sie mir ein paar Geschichten drum herum, verschiedene Aspekte des Lebens in den Trümmern. Ich glaube, in den Vereinigten Staaten nennt man so was Human-Interest-Stories – ein bißchen Lokalkolorit.
Sie können Ihre Geschichten aus Warschau mit dem Material von Desmond Birch mitschicken, der für ein britisches Landwirtschaftsmagazin schreibt, oder mit Mary Burkes Texten, die berichtet für die Irish Times . Sie können mir die Texte aber auch direkt schicken – ein Interview mit einem Architekten zum Beispiel, der die Stadt wiederaufbauen will, Sachen für Leute, die nicht so sehr Nachrichten, sondern lieber Geschichten aus dem Leben lesen wollen. Birch und Burke wohnen im Polonia-Hotel, bloß ein paar Meter von ihrer Unterkunft entfernt. Du meine Güte!» rief er plötzlich aus, ohne jedoch den Tonfall zu ändern, «Warschau wurde vollständig zerstört. Es gibt überhaupt nur noch drei Hotels. Ein viertes wird gerade gebaut, in dem die Abgeordneten oder Mitglieder des neuen polnischen Parlaments sitzen sollen, die vor der Wahl im Dezember dort eintreffen werden. Ich denke, wenn Sie Ihre erste Nacht in der Stadt verbringen, wird es schon ausreichend fertiggestellt sein.» Die letzten Worte untermalte er mit einem feinen Lächeln, woraus ich entnahm, daß er für meine erste Nacht in Warschau mehr Geld auszugeben bereit war als gewöhnlich.
«Danach ziehen Sie ins Centralny, ein kleines Hotel, aber mitten im Zentrum. Ich denke, Sie werden keine Probleme bekommen – abgesehen von der Kälte natürlich.»
«Kälter als in Paris kann es kaum werden», sagte ich.
«O doch, kann es, und wird es auch. Vergessen Sie nicht, das
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