Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
einer näher kommenden Straßenbahn hörten. Sie hielt für uns, und wir stiegen die schmalen Stufen hinauf. Drinnen saßen ein paar Frauen stumpf auf den hölzernen Latten, die als Sitze dienten. Manche starrten auf den Boden, andere blickten aus den staubigen Fenstern. Eine Frau mit einem Kopftuch schlief ein, als wir gerade die Karlsbrücke überquerten.
Jan fing mit ruhiger Stimme an, von seinen zehnjährigen Zwillingstöchtern zu erzählen. Womöglich verpaßte ich wegen des Lärms der Straßenbahn ein paar Worte.
Die Zwillinge waren ins Lager Auschwitz gebracht worden, in dem Josef Mengele tätig war. Beide waren bei den Experimenten des KZ-Arztes ums Leben gekommen. Jans Frau war vor Hunger und Verzweiflung in einem Konzentrationslager östlich von Prag gestorben. Er selbst hatte mehrere Jahre in einem anderen Lager zugebracht. Nein, antwortete er auf meine Frage, er war kein Jude, bloß ein Politischer.
Er drückte meinen Arm und nickte in Richtung eines großen Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Es war der Bahnhof.
Es kam kein Auto, als wir die breite Straße überquerten. In dem düsteren Bahnhof bekam ich es einen Augenblick lang mit der Angst zu tun und wollte nicht von Jans Seite weichen. Er nahm mich am Arm und führte mich zum wartenden Zug, dessen Lokomotive weiße Dampfwolken ausstieß. Am Fuß der schwarzen Stufen erzählte er mir die zweite Geschichte.
«Einem Professor, den ich kannte», fing er an, «wurde die ganze Familie von den Deutschen umgebracht. Eines Morgens, ich glaube, es war ein paar Tage nach dem Ende der Besatzung, schaute er aus dem Fenster im ersten Stock seines Hauses. Er sah einen deutschen Soldaten die Straße entlangrennen. Er stürzte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Der Soldat war nur ein, zwei Meter vor ihm, und der Professor warf sich auf ihn und erwischte seine Beine. Der überraschte Soldat stürzte schwer und schlug sich den Kopf an einem Pflasterstein auf. Der Professor schaute hoch und sah ein verlassenes Fleischergeschäft mit eingeschlagenen Schaufenstern und fehlender Tür. Er trug den Deutschen hinein und hängte ihn mit dem Hals an einen Fleischerhaken, an einen sehr großen Haken, der für ein Rind gedacht war.»
Ich starrte ihm ins Gesicht und hielt die Luft an. Plötzlich umarmte er mich und sagte: «Ich hoffe, Sie haben eine problemlose Fahrt nach Warschau.»
Ich sah ihm nach, doch er drehte sich auf dem Weg durch die Bahnhofshalle nicht um. Mit meinem kleinen Koffer stieg ich die Stufen hinauf in den Waggon und dachte an das Lächeln, das nicht von seinen Lippen gewichen war, seit ich ihn am Flughafen getroffen hatte; auch nicht bei den Geschichten, die ich gerade gehört hatte.
Ich hatte gedacht, es sei eine Grimasse des Schmerzes und der bitteren Belustigung, die mehr oder weniger dauerhaft auf seinem Gesicht eingegraben war. Doch als ich mich auf einem der Holzsitze niederließ, ging mir auf, daß es eine Strafe für die Verbrechen war, die an ihm begangen worden waren – daß er immer in der Mitte zwischen wütendem Gelächter und lauter Wehklage gefangen bleiben würde.
N ach dem Schnee
I ch erreichte Warschau nach einer anstrengenden Zugfahrt aus Prag gegen Mitternacht. Auf ihrem Rückzug hatten die Deutschen Polens Schienensystem beinahe völlig zerstört, und der Zug mit den wenigen Passagieren brauchte viermal so lange nach Warschau wie vor dem Krieg.
Stundenlang blieb er auf endlos vereisten Flächen stehen. In den Waggons hielt uns die gletscherkalte Luft bewegungslos auf unseren harten Holzbänken fest, und die Stille wurde nur vom flüsternden Hauch unseres flachen Atems durchbrochen. Manchmal hielten wir in Dörfern, die so klein waren, daß sie die Eintönigkeit der Schneefläche kaum unterbrachen. Bei diesen anscheinend sinnlosen Aufenthalten stellten manche von uns sich auf die vereisten Türstufen, wie es jeder Reisende tun würde, um nach einem Lebenszeichen Ausschau zu halten. Einmal traten drei Frauen aus ihren Hütten, die sich neben den Gleisen duckten, warme Tücher um den Kopf gebunden. Sie liefen mit schweren Schritten auf uns zu und drückten uns Becher mit dampfendem Tee in die gefrorenen Hände.
In manchen Augenblicken glaubte ich, wir würden nie wieder den knirschenden Vorwärtsruck spüren, der seit Prag das Vergehen der Stunden bemaß. Ich stellte mir vor, wir würden einfach allmählich verschwinden, nichts als eine Erinnerung einiger Landbewohner bleiben, die einst unseren Zug gesehen hatten, wie
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