Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
nachdem sie von dem Jungen angegriffen worden war, der vor dem Hoteleingang Zeitungen verkaufte.
Niemand wußte seinen Namen oder woher er kam. Wie viele Menschen in jenem Winter lebte er in irgendeinem Trümmerloch. Es hieß, er sei um die vierzehn. Er sah uralt aus oder alterslos. Am Stumpf seines rechten Knies war ein hölzerner Pflock befestigt. Obwohl er also nur humpeln konnte, huschte er doch umher wie eine Ratte, murmelte dabei die ganze Zeit vor sich hin und ließ ab und zu ein schreckenerregendes Kichern ertönen.
Es war früher Abend, als Mrs. Grassner aus ihrer Droschke stieg, die sie vom Flughafen zum Polonia gebracht hatte. Ich stand ein paar Schritte entfernt, um mich mit einer Freundin im Speisesaal zum Tee zu treffen. Der Junge schwang Mrs. Grassner einen Armvoll druckfeuchter Zeitungen vors Gesicht, schrie sie auf polnisch an – ich wußte, er forderte sie auf, eine zu kaufen –, und als sie versuchte, an ihm vorbeizugehen, trat er ihr mit seinem Holzstumpf vors Schienbein, wobei er auf dem krummen Stock balancierte, den er immer bei sich trug. Begleitet wurde die Attacke von seinem durchgedrehten Kreischen.
Mrs. Grassner schrie auf, ließ ihre Handtasche fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Ich packte sie am Ellbogen, hob ihre Tasche auf und zog sie ins Foyer. Sie sah mich an, eine Hand an die Wange gelegt, und beugte sich dann vor, um ihr Bein zu untersuchen.
«Mein Gott! Was war das denn?»
«Das macht er mit allen», sagte ich rasch.
«Mit allen?» entgegnete sie verdattert.
«Die keine Zeitung kaufen. Am besten, man macht einen weiten Bogen um ihn. Er sieht nicht besonders gut.»
«Ein Wilder!» rief sie.
«Er schert sich einfach einen Dreck», sagte ich.
«Das überrascht mich nicht», sagte sie. «Das überrascht mich überhaupt nicht.»
Ich hielt sie immer noch am Arm. Sie schaute auf meine Hand, dankte mir und sagte, sie ginge jetzt am besten auf ihr Zimmer und behandelte ihre Beule. «Ich spüre schon, wie sie anschwillt», sagte sie.
Danach sah ich sie überall, im Außenministerium, wo sie Presseerklärungen abholte, bei Pressekonferenzen von Politikern im Hotel, sogar in den Büros der Architekten, die Pläne für den Wiederaufbau Warschaus erarbeiteten. Es gab zwar keine Kleidervorschrift unter Reportern, aber Mrs. Grassner in ihrem dunklen, ordentlichen Kostüm und ihrer schlichten weißen Bluse schien zwischen uns immer fehl am Platz zu sein. Sie trug Überschuhe aus Gummi, ihre festen, grauen Locken wurden von einem kleinen Filzhut plattgedrückt. Ihr Bisammantel reichte bis zur Mitte der Waden. Ab und zu sah ich sie etwas in ihr Notizbuch schreiben. Meistens aber saß oder stand sie am Rand der Reportermeute, als würde sie auf einen Anruf warten.
Sie sah aus wie eine Hausfrau aus der Vorstadt, und das war sie auch. Ihr Auftraggeber, fand ich heraus, war ein jüdischer Frauenverband. Diese Organisation hatte sie nach Polen geschickt, um herauszufinden, was die Regierung für die Juden zu tun beabsichtigte, die Polen verlassen und sich im damals britisch verwalteten Palästina niederlassen wollten.
Mrs. Grassner sprach ohne formelle Anrede mit mir und setzte oft das Gespräch vom vorigen Tag übers Wetter einfach fort. Sie litt ungeheuer unter der Kälte und redete voller Bitterkeit darüber. Am Wahltag, als ich gerade mit einer Gruppe Reporter in einem von der Regierung gestellten Auto nach Radom fahren wollte, angeblich, um die Wahlen zu beobachten, entdeckte ich Mrs. Grassner im Speisesaal des Polonia beim Tee.
«Wollen Sie nicht zu einem der Wahllokale gehen?» fragte ich sie.
«Warum sollte ich?» fragte sie zurück und schneuzte sich. «Was gibt es da zu sehen? Meinen Sie, es gibt eine Überraschung?»
«Na ja, einfach aus Interesse.»
«Ich bin nicht interessiert», sagte sie.
Ungehalten ging ich nach draußen zum Wagen. Wie hatte sie irgend jemanden überzeugen können, sie nach Polen zu schicken? Warum kaufte sie sich keine anständigen Stiefel?
Die Wahl ging vorüber. Vom Balkon des neuen Parlamentsgebäudes sahen wir Bolesław Bierut, der langsam im offenen Mercedes durch eine Doppelreihe polnischer Kavalleristen gefahren wurde, während der Schnee in großen weichen Flocken fiel. Später am selben Tag hielt der neue Präsident eine Pressekonferenz im Winterpalast ab (vielleicht war es auch der Sommerpalast – ich habe es vergessen). Danach wurde ein Fest gegeben.
Ich wandte mich den Fenstern der großen Empfangshalle zu, von den langen
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