Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Einen langen Augenblick stand er an der Rampe und blickte finster in den Saal. Dann nahm er die Zigarre aus dem Mund. «Worüber lacht ihr denn alle, zum Teufel?» fragte er.
Nach dem Varieté ging ich zum Red Lion Square, ich weiß nicht mehr, warum. Dichter Nebel lag auf dem Platz, und die roten Lichter eines Pubs hingen wie eine Girlande darin. Musik aus einem Radio trieb vorüber. Ich war am Mittelpunkt der Welt. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt. Dann fragte ich mich, ob irgendeinem Menschen der Ort, an dem er sich befand, wohl nicht als der Mittelpunkt erscheinen mochte.
Am nächsten Nachmittag nahm ich das Flugzeug nach Prag.
L ächeln
A n einem dämmrigen Nachmittag Anfang Dezember des Jahres 1946 traf ich mit einem kleinen Passagierflugzeug, das nach Warschau weiterflog, am Flughafen von Prag ein. Es beförderte vor allem richtige Journalisten, die für große Agenturen oder Zeitungen arbeiteten, während ich als Aushilfskorrespondentin nur den Flug bis Prag wert war. Kurz vor Mitternacht würde ich einen Zug besteigen müssen, der mich den Rest des Weges bis in die polnische Hauptstadt bringen sollte.
In dem fast leeren Flughafengebäude entdeckte ich einen kleinen, gepflegt aussehenden Mann mit blondem gekräuselten Haar, der augenscheinlich nach mir suchte. Wir fanden uns; wir schüttelten uns die Hand. Es war Jan. Er betrachtete mich mit ruhigem, gelassenem Blick; auf seinen Lippen spielte ein halbes Lächeln, das die ganzen Stunden, die ich mit ihm und seiner Frau Rose verbrachte, nicht von seinen Zügen wich. Außer beim Teetrinken.
Wir fuhren mit dem Bus in die Stadt. Einmal hatte ich den Eindruck, er habe goldene Augen, doch das war nur ein vorübergehender Effekt im Scheinwerferlicht eines Autos, das uns auf der schmalen Straße entgegenkam. Ich nehme an, seine Augen waren haselnußbraun.
Er erzählte mir, daß er vor kurzem die Engländerin Rose geheiratet habe, die bei einer Hilfsorganisation für Nachkriegsflüchtlinge arbeite. Sie begrüßte uns in ihrer gemeinsamen kleinen Wohnung in einem Gebäude, das unlängst so billig errichtet worden war, daß es immer noch feucht nach frischem Putz roch. Sie hatte Tee gekocht und meinte, wir müßten doch ganz erfroren sein von dem schrecklichen Wind, der in Prag jeden Abend aufkam. Vor den beiden kleinen Fenstern des Wohnzimmers war es jetzt nachtschwarz. Sie hatte einen kleinen Kuchen gekauft und machte uns ein paar unansehnliche Sandwiches. «Das Brot», zuckte sie in geduldiger Hilflosigkeit die Achseln. Eine weitere Unannehmlichkeit, die man im Nachkriegsmitteleuropa ertragen mußte.
Ich hatte den Eindruck, daß sie die ganze Zeit redete, die ich in der Wohnung verbrachte, außer wenn ich eine gewöhnliche Frage einwarf. Es war mir egal, was sie antwortete, ich wollte nur die schreckliche Monotonie ihrer hellen, gnadenlos fröhlichen Stimme unterbrechen, die jedem Thema, das sie anschnitt, das gleiche Gewicht verlieh.
Ich wußte so wenig, und was ich wußte, verstand ich nicht. Mein gieriges Interesse wurde in jenen Tagen von allem und jedem geweckt.
Jan beobachtete mit seinem halben Dauerlächeln jede Bewegung von Rose. Allmählich erkannte ich seine tiefer liegende Verzweiflung. Als wir später in der Straßenbahn zum Bahnhof saßen und er mir vom Schicksal seiner Familie während der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis erzählte, gelang es mir nicht, die Bedeutung seiner Geschichte zu erfassen, und wenn doch, dann nur bruchstückhaft und für wenige Sekunden. Wenn ich etwas verstand, hatte ich das Gefühl, Glasscherben in der Hand zu zerdrücken.
Roses Wortlawine geriet erst ins Stocken, als sie das kleine Radio anschaltete, das auf einen englischen Nachrichtensender eingestellt war. Sie setzte sich und hörte zu. Mir fiel auf, daß sie seit meiner Ankunft in der Wohnung ständig in Bewegung gewesen war. Jetzt schob sie ihre Hände unter die Schürze, als sei ihr kalt. Durch den dünnen Stoff sah ich ihre vorstehenden Fingerknöchel. Inzwischen war es Zeit aufzubrechen.
Jan hatte seine Wange an ihre gedrückt, als wir an der Wohnung ankamen, und als wir gingen, tat er das gleiche. Ich wandte mich ab. Dieses langsame Haut-an-Haut-Drücken erschien mir intimer, als es ein leidenschaftlicher Kuß gewesen wäre.
Wir gingen einige Straßen weit durch die düsteren Schatten Prags, auf einem Bürgersteig, der hier und da von kleinen Lichtpfützen unter den wenigen funktionierenden Straßenlampen erhellt wurde, bis wir das Rumpeln
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