Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
er sich durch die verlassenen Landstriche schleppte.
Doch irgendwann trafen wir tatsächlich im provisorischen Bahnhof von Warschau ein. Dahinter warteten in fast völliger Dunkelheit einige Droschken. Pferde schnaubten und stampften mit den Hufen, die Kutscher sahen mit ihren Wintermänteln und von Schals verhüllten Gesichtern übergroß und formlos aus. In einer dieser kleinen Kutschen fuhr ich in die schweigende Stadt. Hier und dort schien ein Licht aus den Trümmerhaufen, wie das Glimmen abgedeckter Feuerstellen, und erleuchtete die schwarzen Ruinen, die der Schnee noch nicht bedeckt hatte.
Wir fuhren in den ummauerten Hinterhof des Hotels, von dem Sir Andrew gesprochen hatte. Ein Wächter mit Überschuhen aus Stroh und einem Gewehr trat aus dem Schatten eines Säulenvorbaus und wechselte ein paar Worte mit dem Kutscher, während ich mit den Złotys bezahlte, die ich in Prag eingetauscht hatte. Er musterte mich genau, als ich das schmale Foyer betrat. Dort war niemand.
Mit meinem kleinen Koffer in der Hand ging ich einen langen Korridor entlang. Ich roch frischen Putz. Plötzlich hörte ich die ersten Takte einer Chopin-Etüde. Die Musik drang aus einem kleinen Lautsprecher an der Decke über einem riesengroßen Speisesaal. Wie ich von Sir Andrew wußte, war das Hotel in ungeheurem Tempo errichtet worden, um die Minister der bald zu wählenden polnischen Regierung zu beherbergen, der ersten nach Kriegsende. Auch der Speisesaal roch nach Putz und frischer Wandfarbe, und doch hatte er ein Flair verfallener Pracht, wie ich sie in den Salons anderer Grandhotels in europäischen Städten gesehen hatte.
Während ich dort stand, verwirrt vom Glanz der Lichter, und die weißen Säulen anstarrte, welche die hohe Decke trugen, merkte ich, daß ich nicht allein war.
An einer halbrunden Eßtheke in der Mitte des Saals lehnte ein polnischer Offizier, einen schwarzen Stiefel vor den anderen gestellt, als wolle er jeden Moment losgehen. Er hörte, wie ich meinen Koffer abstellte, drehte sich träge zu mir um, nickte und aß dann weiter das hartgekochte Ei, das er in seinen langen, bleichen Fingern hielt. Kein Kellner zeigte sich. Wir blieben allein, der Offizier, die Musik und ich. Ich hatte das Gefühl, mich in jemand anderes Traum zu befinden. Später fand mich ein Hotelangestellter im Halbschlaf an einem der Tische und führte mich in ein Zimmer, wo ich in meinen Kleidern ins Bett fiel. Am nächsten Morgen zog ich in ein billigeres Hotel, das Centralny, wo ich mit den weniger solventen Mitgliedern des Pressekorps bis Mitte Februar 1947 blieb.
Die meisten Leute, die in jenem Winter nach Warschau kamen, waren Journalisten, die über die Wahl berichten sollten. Es gab auch noch andere Ausländer – Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Ökonomen, Architekten, Botschaftsangehörige und die verschiedenen Fachleute, die einer Katastrophe nachfolgen. Die Journalisten vertraten jegliche politische Schattierung und schrieben für jede Art von Publikation, von der Londoner Times bis zu landwirtschaftlichen Vierteljahresheften aus dem amerikanischen Mittelwesten, darunter auch einige Stars wie Dorothy Thompson oder Ralph Ingersoll. Manche waren wie ich freie Korrespondenten, die nur lose mit irgendwelchen Nachrichtenagenturen in Paris, London oder New York verbunden waren. Doch es gab auch einige bemerkenswerte Gestalten, deren Aufenthaltszweck geheimnisvoll blieb und die anscheinend nur sich selbst vertraten.
Da war zum Beispiel der Inder aus Kaschmir, den man des öfteren dabei beobachten konnte, wie er durch die zerstörten Straßen huschte, der Mantel trotz der schrecklichen Kälte offen flatternd, und nach Bridgepartnern für sich und seine Freundin suchte – eine ältere polnische Gräfin, die im Keller einer ausgebombten Konditorei lebte. Oder der sehr junge Engländer, der immer in einen schäbigen schwarzen Ulster gehüllt war und geduldig und ohne Scham auf Einladungen zum Essen wartete. Von ihm hieß es, er sei Spion, morphiumsüchtig und in Wirklichkeit kein Engländer, sondern Mitglied einer faschistischen ungarischen Jugendorganisation, und manche behaupteten, er sei unter seinem Wintermantel splitternackt. Da war der Ire aus Limerick, der in abgetragenen Reitstiefeln durch Schnee und Trümmer stapfte und die Reitpeitsche, die er immer bei sich trug, in den Stulpenhandschuh schlug, den er ebenfalls immer anhatte. Er hatte sich durch die Bemerkung hervorgetan, daß die Ruine des alten Bahnhofs von Warschau die
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