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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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ist Osteuropa.»
    «In Paris wollte ich manchmal nicht aus der Metro aussteigen, weil sie der wärmste Ort war, den ich kannte. In den Zügen lernte ich ein paar Leute kennen, die ganz meiner Meinung waren.»
    Er schien mich gar nicht gehört zu haben. «Wie gesagt, schreckliche Zustände in Polen. Ich muß Sie warnen: Auch wenn in England manche Lebensmittel rationiert sind, im Vergleich zu Warschau ist das hier ein tropisches Paradies. Ich würde mir die Reise an Ihrer Stelle noch mal überlegen. Sie müssen nicht hin. Ich kann Ihnen auch Aufträge in London geben: Interviews mit streikenden Bergarbeitern, mit dem einen oder anderen Verleger, Victor, für den Sie ja gearbeitet haben und den ich gut kenne, oder Dennis Cohen, auch ein Bekannter von mir, solche Themen.»
    Einen Moment wirkte er verstimmt, als gefiele ihm die Vorstellung nicht, daß ich andere Verleger interviewen könnte. Er seufzte und sah mir in die Augen. «Wünschen Sie Kaffee?» fragte er. «Er wird allerdings furchtbar schmecken. Ich glaube, er wird zum Teil aus Zichorien gemacht.»
    «Nein, vielen Dank. Ich hatte von allem genug.»
    «Sie haben Ihren Käse nicht aufgegessen», sagte er. «Ich bin satt, Sir Andrew.»
    «Man darf nichts verschwenden», sagte er, sammelte mit seinen langen, knochigen Fingern die übriggebliebenen Käsestücke von meinem Teller und schluckte sie in zwei Happen herunter, wobei sein vorstehender Adamsapfel hüpfte.
    Für einen Lord sah er nicht sehr wohlgenährt aus.

    Ich nahm die U-Bahn nach Wandsworth. Es war Wochenende, daher nahm ich an, daß Nan und Ted zu Hause sein würden. Als ich ankam, kniete Ted auf dem Fußboden des Hausflurs und verlegte die letzten Gleisabschnitte einer Modelleisenbahn. Er winkte mir zu. «Paß auf, wo du hintrittst!» warnte er. Im selben Augenblick kam Nan aus der Wohnung, eine Dampflokomotive in der Hand, die sie auf die Schienen setzte. Frances und Martin, dessen Geburtstagsgeschenk die Eisenbahn war, kamen mit strahlenden Gesichtern an die Tür, für einen Augenblick glücklich. Sie zitterten in der kalten Luft.
    Ted hatte die imposante Lok in einem Londoner Trödelladen gefunden und wochenlang daran gearbeitet, um sie zu altem Glanz zu erwecken. Sie glitzerte im blassen Licht des Nachmittags, geölt und kraftvoll, obwohl sie doch so klein war. Jetzt stieß sie eine Dampfwolke und einen triumphierenden Pfiff aus. Wir alle jubelten und applaudierten, als sie mit rotierenden Seitenrädern die Schienen entlangtuckerte.
    Ich verabschiedete mich von ihnen. Ihre Mienen waren – ebenso wie meine, nahm ich an – von der Freude gemildert, von albernem, freundlichem Lächeln; wir sahen immer noch die Dampflokomotive vor uns, die ihren Weg machte, ein paar Augenblicke ohne die Spannungen, die sonst die Räder des Lebens rotieren lassen.

    Ich machte mich auf nach Chelsea, um Benn und Cummings zu besuchen, aber sie waren nicht zu Hause; er war wieder nach Irland gereist, und sie war bei einer Vormittagsvorstellung in einem Theater im West End. Nur das Dienstmädchen, das mir den getrockneten Hering serviert hatte, stand in der Tür.
    Dann klingelte ich an der Tür der Wohnung in St. Johns Wood. Niemand öffnete.
    Ich sah nach beiden Seiten den Bürgersteig entlang. Zum ersten Mal, seit ich in Europa war, hatte ich Zeit zur freien Verfügung. Ich hatte nichts zu tun. Entschlossenen Schrittes ging ich in eine Richtung, doch schnell fiel mir auf, daß ich kein Ziel hatte. Reglos stand ich im ersterbenden Licht eines winterlichen Nachmittags im nördlichen Europa und spürte das ungewohnte Gewicht des gegenwärtigen Augenblicks, bevor die Zeit mich weiterzog. Schließlich fand ich mich vor dem Eingang eines der bekanntesten Varietés in London wieder. Nachdem ich eine Weile einem Straßenmusiker gelauscht hatte, der ein lautes Trompetenstück spielte, kaufte ich eine Eintrittskarte.
    Ich erinnere mich an eine blonde Sängerin mittleren Alters mit kräftiger, eher unmelodiöser Stimme. Doch am lebendigsten ist meine Erinnerung an Bud Flanagan. Er gehörte, glaube ich, zu der Komikertruppe The Crazy Gang.
    Die verschiedenen Kulissen wurden wie Vorhänge bis zur hintersten zurückgezogen. Eine kleine, rundliche Gestalt mit eigenartigem Hut schritt langsam zum vorderen Bühnenrand, an den Rändern der verschiedenen Kulissen vorbei, und wurde bei jedem Schritt größer, bis das Publikum ihn erkannte und sich vor Lachen ausschüttete.
    Bud rauchte eine Zigarre, deren Qualmwolke hinter ihm herwehte.

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