Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
ästhetisch befriedigendste Bombenruine in ganz Europa sei.
Die Kälte war so heftig, daß ich wie viele andere anfing, mehrere Schichten Zeitungspapier unter dem Mantel zu tragen. Es gab kaum öffentliche Verkehrsmittel, nur ein paar Straßenbahnen, an denen Menschen hingen wie Fliegen an einem Zuckerwürfel, dazu zwei oder drei Busse, einige kleine Autos ohne Scheibenwischer und mit ständig beschlagenen Fenstern sowie ein paar Motorräder mit vorn festgebundenen Holzsitzen, von denen man schon nach kürzester Fahrt steif wie ein Stein herunterpurzelte.
Die meisten von uns gingen zu Fuß oder nahmen, wenn wir es uns leisten konnten, eine Droschke. In deren frostigen Tiefen, niedergedrückt von räudigen, übelriechenden Bärenfellen, verfiel man in eine Art Schneetrance, während die Droschke langsam die Straße entlang oder über eine Brücke der Vistula holperte, gezogen von einem Pferd, dessen Kopf körperlos in einer Wolke seines eigenen Atems hing.
Spätnachts war Warschau dunkel, abgesehen von seltenen Kerosinlampen, die aus den Trümmern glommen, wo ein Zimmer oder ein weniger abgeschlossener Raum intakt geblieben war. Der Wind, der durch die Stadt pfiff, kam direkt vom Ladogasee weit im Norden und war oft so heftig, daß ich mich wunderte, wieso er nicht die Badewannen und Feuerleitern abriß, die an den Hüllen zerstörter Häuser hingen.
In Mondnächten schien das Licht durch die Löcher der fensterlosen Ruinen, die das Herz der Stadt wie ein schwarzer Fries umstanden. Wer in Warschau spazierenging, wie ich es oft am späten Abend tat, das Kinn tief im Mantel vergraben, rechts und links von Schnee und Trümmern überragt, der spürte die Kälte, die Verlassenheit, das Schweigen einer Stadt der Toten. Wenn es taute, so sagte man uns, würden die Leichen der Gefallenen des Warschauer Aufstandes zum Vorschein kommen.
Tagsüber waren die Straßen voller Menschen und hallten wider vom Lärm der Lebenden. Frauen verkauften auf roh zusammengezimmerten Tischen riesige Dosen Fruchtsaft vom Hilfswerk der Vereinten Nationen. Männer boten Füllfederhalter an, Rasierklingen, was immer in die Manteltaschen paßte. Aus Lautsprechern im Stadtzentrum klang den ganzen Tag Chopin, die Eiskristalle glitzerten im Sonnenlicht der schneefreien Tage und schienen die Musik zu begleiten und zu untermalen.
Das Centralny war zwei Minuten zu Fuß vom komfortablen, hell erleuchteten Hotel Polonia mit seinem geräumigen Restaurant entfernt, wo man angeblich das beste Schnitzel in Warschau bekam. Wenn man einen wohlgesinnten Bekannten im Polonia hatte, konnte man einmal die Woche dort baden und mußte nicht eines der zwei Zimmermädchen im Centralny bitten, das heiße Wasser eimerweise die schmale Treppe hinaufzutragen – der Fahrstuhl funktionierte nie –, da sich die einzige Badewanne des Hotels in einem Bad im zweiten Stock befand. Im ersten Stock war ein kleines Café, wo man Rührei und Wodka bekam, echten russischen Wodka aus Moskau in kleinen blaßblauen Flaschen.
Zigarettenrauch, starker Alkohol und Gespräche in einem Dutzend Sprachen ließen einen mit der Illusion von Wärme aufs enge Zimmer gehen, die so lange hielt, bis man unter die Bettdecke kroch, die wie gefrorenes Blei auf einem lastete. Private oder politische Skandale verliehen den Unterhaltungen eine hektische Betriebsamkeit, eine flüchtige Intimität zwischen Menschen, die außer der physischen Nähe nichts gemeinsam hatten. Die angebliche Selbstmörderin im Hotel Bristol, in dem die meisten Briten abgestiegen waren, hatte dieselbe Nummer schon mit einem anderen Mann in Paris abgezogen. Die kommunistische Geheimpolizei hatte über jeden einzelnen Journalisten in Warschau ein Dossier angelegt. Ein Mann von Reuters hatte eine Affäre mit einer kleinen, stämmigen Bulgarin, obwohl die bulgarische Delegation sie nachts in ihrem Zimmer im Polonia einschloß.
Niemand sprach über die Juden, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Doch im stillen gab es zahlreiche Spekulationen darüber, wie viele wohl noch in Warschau leben mochten. Manche sagten, ein Dutzend. Andere schätzten, ein paar hundert. Sie versteckten sich, genau wie die russischen Soldaten in ihrer Garnison am anderen Ufer der Vistula, außer Sichtweite der Polen.
Wenn ich an die Juden in Warschau denke, kommt mir als erstes nicht das Ghetto in den Sinn, sondern Mrs. Helen Grassner, die ein paar Tage vor der Wahl per Flugzeug eintraf. Sie hatte ein Zimmer im Polonia. Wir lernten uns kennen,
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