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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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Tischen ab, die mit Wodka und Tokajer, mit Kaviar und polnischem Schinken beladen waren. In der Dämmerung konnte ich die schneebestäubten Wälder erkennen, in denen die polnischen Könige einst Rotwildherden gehalten hatten. Mrs. Grassner war nicht zum Fest erschienen, obwohl sogar der Ire aus Limerick da war und Kaviar in sich hineinschlang.
    Ich sah sie erst einige Tage später wieder, als ich mit etwa zwanzig anderen Journalisten vor dem Polonia auf den Bus wartete, der uns zehn Tage lang durch Schlesien fahren sollte. Mrs. Grassner trat aus dem Eingang, blickte schnell nach links und rechts, um zu sehen, ob der Zeitungsjunge da war – das war er morgens nie –, und kam auf mich zu. Sie nickte.
    «Ich hoffe, der Bus ist geheizt», sagte sie.
    «Oh, ganz bestimmt», versicherte ich.
    «Nichts ist garantiert», bemerkte sie.
    Es war ein kleiner Bus mit harten Sitzen. Außer Mrs. Grassner und mir war nur noch ein Amerikaner dabei, ein junger Mann, der immer, wenn ich in seine Richtung sah, ein wissendes, eigenartig triumphierendes Lächeln aufgesetzt hatte, als entspreche alles, was in Polen geschah, einem erfreulichen persönlichen Plan. Außerdem war eine Engländerin mit von der Partie, dazu drei Tschechen und drei Jugoslawen. Ottokar, der älteste Tscheche, war bei allen beliebt, sogar bei den polnischen Beamten des Außenministeriums. Er sah älter aus, als er tatsächlich war – vierzig –, und seine Miene war von so einfacher Freundlichkeit, daß ich viele Menschen mit einem dankbaren Lächeln darauf reagieren sah.
    Nach dem Abendessen in dem Dorf, in dem wir die erste Nacht außerhalb Warschaus verbringen sollten, wurden die Tschechen fröhlich. Die beiden jüngeren Männer tanzten; sie bewegten sich schnell und phantasievoll mit der kontrollierten, strahlenden Kraft von Akrobaten. Ottokar sang.
    Bevor die Nazis in die Tschechoslowakei einmarschierten, war Ottokar Kammersänger gewesen. Jetzt schrieb er als politischer Kolumnist für eine Prager Zeitschrift. Die Nazis hatten ihn in ein KZ in Breslau gesteckt, wo er drei seiner vier Jahre in Einzelhaft verbracht hatte. Auch die anderen Tschechen waren in Lagern gewesen, Karel vier Jahre lang und der jüngste, den wir Baby nannten, zwei Jahre. Die Jugoslawen waren Partisanen unter Titos Kommando gewesen. Diese sechs Männer wurden das Herz unserer Gruppe, das Zentrum fast jeglicher Aufmerksamkeit, als sei ihre Anwesenheit die Fortsetzung des Dramas von Widerstandsfähigkeit und Überlebenswillen, das nun vor der Kulisse der schneebedeckten Felder, der nackten neuen Fabriken und der uralten Dörfer gespielt wurde, durch die der kleine Bus uns fuhr.
    Ottokars letztes Lied an diesem Abend war eine wortlose Klage, die, wie er uns erzählte, von den Grenzposten an der ungarischen Grenze gesungen wurde. Mitten im Lied brach seine Stimme. Er schwieg. Dann sang die Engländerin, die stämmige und sehr junge Mary, in ihrem schmelzenden Sopran über die Molly Maguires, über Verrat und Massaker und irische Jungen mit Kugeln in der Brust, die auf dem Moor gefallen waren.
    Mrs. Grassner saß derweil die ganze Zeit allein in dem kleinen Speisesaal des Provinzhotels, in dem wir für die Nacht untergebracht waren. Sie rauchte und trank nicht und applaudierte auch nicht den Gesangsdarbietungen wie wir anderen. Als ich auf dem Weg ins Bett an ihrem Tisch vorbeiging, sah ich, daß sie mehr als ein Dutzend ordentlicher kleiner Häufchen aus Brotkrümeln errichtet hatte.
    Sie begleitete uns weder in die Waggonradfabrik noch in die Kindertagesstätten für arbeitende Mütter, noch in die Bergwerke, in die neuen Amtsgebäude oder zu den abendlichen Festen. Zuerst dachte ich, ihre Abwesenheit ließe sich mit ihrer Abneigung gegen die Kälte erklären und mit ihrer allgemein beschränkten Lebenseinstellung. Doch irgendwann, vielleicht in einem Hotelfoyer in Katowice, fing sie an, mit mir über etwas anderes als das Wetter zu reden.
    «Englisch und mein schlechtes Jiddisch reichen nicht», sagte sie leise, eher in mein Ohr als zu mir. «Wenn ich es doch besser gelernt hätte.» Ich erinnerte sie, daß uns bei unseren Exkursionen meistens Dolmetscher zur Verfügung stünden.
    «Ach ja!» rief sie mit einer Spur Bitterkeit. «Für Sie alle ist das in Ordnung! Aber ich habe Wichtigeres zu tun. Wo ich hingehe, brauche ich zumindest Deutsch.»
    «Die Tschechen sprechen Deutsch», sagte ich.
    Sie starrte grübelnd zu Boden. «Dieser Jüngere, Karel», hob sie an. «Wissen Sie, daß er

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