Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Flusses waren», sagte er.
Wir brauchten noch eine Stunde, bis wir es fanden: ein altes Gefängnis, hinter dem mit Stacheldraht ein riesiges Rechteck abgezäunt war, in dem die steinernen Baracken wie Grabsteine aufgereiht waren. Der Wind von der Oder peitschte uns, als wir auf dem schmalen Weg zwischen Fluß und Gefängnis standen. Niemand war zu sehen.
«In einem Winter», fing er an, «haben sie mich Müll in den Fluß werfen lassen. Eine Woche lang. Es war himmlisch, im Freien zu sein, menschliche Stimmen zu hören, das fließende Wasser zu sehen.» Plötzlich packte er mich an den Schultern. «Schließlich war es alles nur ein Traum», sagte er. «Was soll es sonst gewesen sein?»
Wir gingen zum großen Platz zurück. Inzwischen schneite es heftig. Ab und zu sah ich in Ottokars Gesicht. Er bemerkte meine Blicke. Ich spürte, daß er wußte, was in meinem Kopf vorging, daß er ebenso plötzlich wie ich begriff, daß es nichts weiter zu erzählen gab.
Am Abend war vorgesehen, daß wir der Eröffnung des örtlichen Opernhauses beiwohnen sollten, dem ersten Konzert, das dort seit Kriegsbeginn gegeben wurde. Unser Breslauer Dolmetscher riet uns, warme Kleidung anzuziehen. «Das Dach hat noch Löcher von den Bomben», sagte er.
Auch als die Musiker schon ihre Plätze eingenommen hatten, selbst als die Zuschauer das Parkett und die Logen füllten, kam mir die schattige Kaverne mit ihrem Geruch nach Staub und Feuchtigkeit wie eine Katakombe vor. Irgendwas stimmte nicht mit der Elektrizität, und man konnte das Licht nicht dämpfen, ohne uns in völlige Dunkelheit zu stürzen. Es sollte nur das Violinkonzert von Brahms gegeben werden. Die Geigensolistin, eine kleine, pummelige Frau im kurzen schwarzen Kleid, sah Mrs. Grassner ähnlich. Sie trug Handschuhe; aus unserer Loge sah ich, daß es Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern waren. Die Musiker hatten Straßenanzüge an, manche ohne Krawatte.
Wir lauschten alle so konzentriert, als hätten wir noch nie zuvor Musik gehört oder würden es nie wieder tun. Die Jugoslawen beugten sich vor und legten das Kinn auf die abgewetzten Samtlehnen der leeren Sitze vor ihnen. Am Ende bekamen die Musiker vom Publikum stehende Ovationen, doch die Solistin und die Orchestermitglieder eilten von der Bühne, noch bevor der Applaus verklungen war, um Mäntel und Hüte anzuziehen.
Als wir ins Hotel zurückgingen, fragte mich Karel, wo Mrs. Grassner gewesen sei. Ich antwortete, das wisse ich nicht.
«Die Geigerin war Jüdin», sagte er.
Mrs. Grassner saß im Foyer, als wir ins Hotel kamen. Sie winkte mich auf den Stuhl neben ihr.
«Sie hätten zum Konzert kommen sollen», sagte ich beim Hinsetzen. «Die Solistin war Jüdin.»
«Ich weiß, ich weiß», antwortete sie mit einer gewissen Ungeduld. «Sie ist eine bekannte Persönlichkeit und Künstlerin. Um sie mache ich mir keine Gedanken. Aber um die anderen.»
«Die anderen?» echote ich.
«Meine Kontakte. Wissen Sie denn gar nichts? Sie lassen die Juden nicht ausreisen. Ja, ja, sie versprechen ihnen die Überführung. Alles mögliche. Sie übertragen sogar Radiosendungen nach Palästina.»
«Haben Sie ihre Kontakte überall getroffen?»
«Überall, wenn ich sie auftreiben kann», antwortete sie.
Ich war so überzeugt gewesen, daß sie sich allein in ihrem Hotelzimmer in ihre Decken gewickelt hatte, während wir durch Fabriken gescheucht wurden, daß ich mir immer noch nicht bildlich vorstellen konnte, wie sie durch die Straßen eilte, um andere Juden zu treffen. Wußte ich denn nicht, fragte sie jetzt, daß die Polen die schlimmsten Antisemiten in ganz Europa waren? Hatte ich geglaubt, Hitler habe ihnen beigebracht, wie man Juden umbringt? Dann sollte ich lieber noch mal richtig nachdenken!
«Dieser Soldat!» sagte sie. «Haben Sie sein Gesicht gesehen? Der Trunkenbold. Als er ins Restaurant kam, hatte ich das Gefühl, er wollte mich umbringen!»
In diesem Augenblick fiel mir ein Gespräch mit einem jungen Übersetzer aus dem Außenministerium an einer Straßenecke ein. Während wir unsere Gesichter mit den Händen vor dem eisigen Wind schützten, hatte er mir erzählt, daß er und ein paar andere Jungen Jahre vor dem Krieg an genau dieser Straßenecke jüdische Kinder gejagt hätten, mit Stöcken, an denen Rasierklingen befestigt waren.
Unser letzter Halt war ein Dorf bei Swidnica, wo wir übernachten sollten. Es war nur ein paar Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, Karel und Baby sollten unsere
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