Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
Vom Netzwerk:
vier Jahre im Lager war?» Ich nickte und war überrascht, daß sie immerhin so viel mitbekommen hatte.
    «Ich kenne eine Menge Juden, und alle haben Verwandte oder ganze Familien verloren. Ich nicht. Wie kann das sein? Es ist kaum zu glauben, daß meine ganze Familie davongekommen ist. Ich denke immer: Es muß doch einen Cousin gegeben haben, vielleicht auch einen entfernteren, den sie umgebracht haben, die Nazis. Aber nein. Man hat mir mitgeteilt, daß es keinen derartigen Cousin gegeben hat.»
    Sie sprach mit ausdrucksloser Stimme, doch ihr Gesicht, vielleicht bewegt von den Gefühlen, die ihr Tonfall verbarg, verzog sich immer mehr, bis ihr schließlich Tränen über die Wangen rannen. Sie öffnete ihre Handtasche und zog mit einem zarten Finger ein Taschentuch heraus, hielt es an die Nase und schneuzte sich.
    «Glauben Sie nicht, daß ich undankbar bin», sagte sie. «Aber ich fühle mich wie ein Geist. Ich hatte schon so viel Kummer… Operationen, Enttäuschungen, Traurigkeit … und jetzt bin ich ein Geist.»
    Ihre Handtasche glitt von ihrem Schoß. Ich hob sie auf und reichte sie ihr. Sie schien gar nicht zu merken, daß sie danach griff. Mit durchdringendem Blick starrte sie mich an und schüttelte dann den Kopf. «Ach, was wissen Sie schon davon, ein junges Mädchen wie Sie?»

    Als wir später am Abend noch an den Tischen saßen, an denen wir zu Abend gegessen hatten, stürzte ein betrunkener Soldat durch den Vorhang, der vor der Tür hing. Er blinzelte uns aus trüben blauen Augen an. Seine Jacke war zerrissen, sein blondes Haar stand stachelig in die Luft. Er hatte ein entschieden polnisches Gesicht, eine Stupsnase und von Kälte und Alkohol gerötete Wangen. Als er zwischen unseren Tischen entlangtaumelte, schien er direkt einem polnischen Märchen entsprungen zu sein.
    Die Jugoslawen prosteten ihm zu und gaben ihm aus ihrem privaten Vorrat an Sliwowitz zu trinken. Einen Augenblick blieb er still stehen, um zu trinken. Er war zerzaust und lachte, sprach kaum noch verständlich, und seine Stimmung schwankte ebenso heftig wie er. Er flüsterte heiser ins Glas, als gebe er diesem die Schuld daran, daß es leer war, dann streckte er den Arm zum Nachfüllen aus, runzelte die Stirn und schien vor unseren Augen zu altern. Ottokar stand schnell auf, legte dem Soldaten den Arm um die Schultern und versuchte, ihn aus dem Restaurant zu führen. Doch der wurde stur und stampfte mit den Stiefeln auf. Mrs. Grassner stand auf, ihr Gesicht von Angst erfüllt, und verließ hastig den Raum, wobei sie einen entsetzten Blick auf den betrunkenen Polen warf.
    Später fragte Karel mich in seinem rudimentären Französisch, warum Mrs. Grassner so plötzlich gegangen sei.
    «Ich glaube, der Soldat hat ihr Angst eingejagt», antwortete ich.
    «Sie ist Jüdin, nicht wahr?» fragte er.
    «Ja.»
    «Sie hat ihre Familie in Polen verloren?»
    «Nein.»
    «Woanders?»
    «Sie hat mir erzählt, daß sie niemanden verloren hat.»
    «Aber sie fühlt es trotzdem», sagte er. «Wenn die Menschen keine Toten haben, fühlen sie es irgendwie noch schlimmer.» Seinem Tonfall konnte ich nicht entnehmen, ob er eine Frage stellte oder eine Antwort gab.
    Als wir am nächsten Morgen abfuhren, bat Karel mich herauszufinden, ob Mrs. Grassner sich im Bus neben ihn setzen wolle. Als ich seine Bitte an sie weiterleitete, sah sie überrascht aus, zuckte dann die Achseln. «Solange es keiner von diesen jugoslawischen Lümmeln ist», sagte sie.
    Sie und Karel saßen den Vormittag über schweigend nebeneinander. Irgendwann, vielleicht während unseres Halts zum Mittagessen, mußten sie eine Schnittmenge zwischen ihrem Jiddisch und seinem Deutsch entdeckt haben, denn am Nachmittag unterhielten sie sich angeregt. Ich saß nicht weit hinter ihnen und konnte sehen, daß sie lächelte.
    In Breslau hatten wir einen freien Tag ohne Führungen. Ottokar kam im Hotelfoyer auf mich zu und fragte mich, ob ich einen kleinen Ausflug mit ihm machen wolle. Er verriet nicht, wohin es gehen sollte. Wir fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum, wo das Rathaus in monumentaler Häßlichkeit zu den tiefhängenden grauen Wolken aufragte. Schneewirbel stoben vorüber. Es war beißend kalt. Ottokar starrte die Straßen an, die vom Rathausplatz wegführten, bald diese, bald eine andere.
    «Ich bin nicht sicher», sagte er.
    «Wo fahren wir denn hin?» fragte ich.
    «Ich wurde in einem Wagen mit heruntergelassener Verdunkelung transportiert. Aber ich wußte, daß wir in der Nähe des

Weitere Kostenlose Bücher