Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Reisegruppe dort verlassen und nach Prag zurückkehren. Ihr journalistischer Auftrag war beendet; sie hatten keinen Grund, länger zu bleiben. Unsere Unterbringung im Dorf heiterte uns alle auf: ein gemütliches altes Bauernhaus mit einem mächtigen Ofen in der großen Diele, dessen Wärme die breite Treppe hinaufstieg und die beiden oberen Stockwerke heizte, in denen unsere Schlafräume lagen.
Ich sollte mir ein Zimmer mit Mary, der Engländerin, und einer Französin, Mademoiselle Tetreault, teilen. Mlle. Tetreault war eine mürrische Frau mittleren Alters, die für eine französische Wochenzeitung eine Serie von Artikeln über polnische Arbeiterinnen schrieb. Bis zu jener Nacht hatte ich kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Während Mary und ich unsere Koffer auspackten, bemerkte sie, daß Mrs. Grassner es geschafft habe, ein kleines Zimmer für sich allein zu ergattern. Sie sprach Französisch, als sei es selbstverständlich, daß Mary und ich sie verstehen könnten. Zufällig verstanden wir sie auch, aber die Anmaßung ärgerte Mary, die kühl auf französisch bemerkte: «Und was spielt das für eine Rolle?»
«Ich würde einfach gerne wissen, wie sie es fertigbekommen hat, ihre Privatsphäre zu sichern. Schließlich hätte ich auch gern ein Zimmer für mich gehabt», antwortete Mlle. Tetreault.
«Dann bitten Sie doch Mrs. Grassner, mit Ihnen zu tauschen», sagte Mary. «Ich bin nicht für die Belegung der Zimmer verantwortlich», erwiderte Mlle. Tetreault.
Das Dorf war eine Besonderheit: Ich hatte in Warschau gehört, die Bevölkerung sei komplett jüdisch. Die Regierung hatte dort Juden angesiedelt, die während der deutschen Besatzung in die Sowjetunion geflüchtet waren. Am nächsten Tag wurden wir in eine Werkstatt geführt, wo mehrere Schneider im Schneidersitz auf langen Tischen saßen und arbeiteten. Als sie hörten, wie Mrs. Grassner sie auf jiddisch ansprach, sahen sie überrascht und erwartungsvoll von der Arbeit auf, und ihre Gesichter zeigten ein Gefühl, das ich nicht benennen konnte.
Der Bürgermeister des Dorfes, ein kleiner, gedrungener Mann, der beim Reden mit den Fingern schnippte und oft lachte, führte uns durch eine enge Gasse zum Marktplatz. Die einzigen Farbtupfer auf dem Boden waren die schneebestäubten Haufen gefrorener Pferdeäpfel. Der Bürgermeister hatte einige Jahre im Gefängnis verbracht, bevor er in die Ukraine geflohen war, sagte der Dolmetscher, dessen Stimme von einem mächtigen Wollschal gedämpft wurde.
«Einer dieser zähen Juden», kommentierte ein junger amerikanischer Journalist. Mrs. Grassner warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Sie beschleunigte ihren Schritt, bis sie neben dem Bürgermeister ging, und richtete ein paar Worte auf jiddisch an ihn. Er ergriff energisch ihren Arm und bedeutete uns, stehenzubleiben.
Am Wegrand war ein Schild in deutscher Sprache an einen Pfosten genagelt. Der Bürgermeister zeigte darauf, redete rasch und mit schnippenden Fingern auf Mrs. Grassner ein und lachte dann. Mrs. Grassner wandte sich an uns. «Das Schild haben die Nazis aufgestellt», erklärte sie. «Darauf steht, daß auf diesem Weg nie wieder Juden gehen werden.»
Der Bürgermeister klatschte in die Hände. Mrs. Grassner lächelte ihn strahlend an. Später erzählte sie mir, nicht die Deutschen, sondern die Polen hätten ihn ins Gefängnis gesteckt. «Er war ein Radikaler», sagte sie.
Am Nachmittag wurden wir auf einen Bauernhof einige Kilometer vom Dorf entfernt gefahren. «Das ist eine jüdische Farm», erklärte mir Mrs. Grassner. Ihre Stimme hatte sich nicht merklich verändert. Ihr unpassender Damenhut saß immer noch fest an der üblichen Stelle. Und doch strahlte sie eine besondere Energie aus, wie ein Fieberkranker Hitze.
In der Küche des Hofes durften wir Milch aus großen Krügen probieren. Der blasse junge Bauer zeigte stolz auf einen neuen Ofen und führte uns dann durch einen geschlossenen Gang zur Scheune. Dort griff er mehrere Handvoll Korn aus einem Sack und ließ sie durch die Finger rieseln, wobei er schüchtern lächelte. Als wir wieder in die Küche zurückkehrten, erzählte er uns, was die Regierung für ihn tat. Seine Frau kam dazu, einen Säugling auf dem Arm, ebenso bleich wie sein Vater, mit den gleichen runden, farblosen Wangen. Es schien unmöglich, daß die drei, so klein und zerbrechlich, wie sie waren, den harten Winter überleben könnten.
Als wir wieder in unserem Bauernhaus waren, sagte Mrs. Grassner: «Das sollte wie ein
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