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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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Überraschungsbesuch aussehen. Aber es war vorher arrangiert. Der Bauer hat mir erzählt, daß die Behörden alle Ausländer auf seinen Hof bringen. Weil es der einzig gute ist, sagt er. Außerdem gibt es nur sehr wenige jüdische Höfe. Lassen Sie sich nicht hinters Licht führen!» Ihre Stimme klang ungewöhnlich heftig. «In diesem Land will man, daß die Juden sich bloß weiter gegenseitig Schnürsenkel verkaufen. Verstehen Sie?»
    Wir bekamen ein gutes Abendessen und verbrachten einen lebhaften Abend. Ottokar und Mary sangen für uns, bis sie heiser wurden. Vom Wodka aufgewärmt, beschlossen wir, noch einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen. Mary und ich gingen abseits und lauschten den Jugoslawen, die in der nächsten Gasse sangen. Ihre Stimmen wurden leiser. Schließlich wurde die Stille nur noch vom Schnauben der Pferde in den benachbarten Ställen durchbrochen oder vom Klappern ihrer Hufe, wenn sie von einem Bein aufs andere traten. Es fing an zu schneien. Die Straße, auf der wir gingen, endete abrupt am Rand eines weiten Feldes, das wie ein Laken vom Himmel zu hängen schien, an den es mit den dunklen Fäden der Kiefernzweige gebunden war.
    Wieder im Bauernhaus, stellten Mary und ich uns an den Ofen und wärmten uns die Hände. Von oben war das Gemurmel der Mitreisenden zu hören, die ins Bett gingen. Die Außenwände des Bauernhofs waren dick wie Festungsmauern, doch die Innenwände, mit denen man die Räume nachträglich unterteilt hatte, dünn wie Stroh. Oben fanden wir Mlle. Tetreault in einem langen, lachsfarbenen Nachthemd auf dem Bett sitzend, wo sie ihre Fingernägel betrachtete.
    «Bei diesem Wetter blättert einem der Nagellack ab», stellte sie fest.
    Als ich später aus dem Bad auf dem Flur zurückkam, hörte ich Stimmen die Treppe heraufschallen. Ich schaute hinunter und sah Karel und Mrs. Grassner nebeneinander vor dem Ofen sitzen, die Füße auf das umlaufende Eisengeländer gestützt.
    Plötzlich war mir unwohl. Ich war so vermessen gewesen, Mrs. Grassner mit gedankenloser Toleranz zu betrachten, doch sie hatte sich meiner Einschätzung entzogen. Jetzt war sie lebensgroß.
    Ich ging zurück in unser Zimmer, wo Mary mit einem abgegriffenen Kartenspiel eine Patience legte und Mlle. Tetreault sich die Nägel feilte. Ein paar Minuten später hörten wir, wie Mrs. Grassners Zimmertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Karels Stimme, obwohl zu einem Flüstern gesenkt, war deutlich zu vernehmen. Mlle. Tetreault hob den Kopf, als wir das Geräusch von Küssen hörten.
    « Sans pudeur », murmelte sie.
    «Still!» zischte Mary.
    «Reden Sie nicht so mit mir!» protestierte Mlle. Tetreault. Sie stand auf, die Halsmuskeln angespannt, die Mundwinkel nach unten gezogen, und griff sich eine Bürste aus ihrem Reisenecessaire. «Die Menschen sind einfach zu verantwortungslos», sagte sie und fing an, sich wütend das Haar zu bürsten.
    Mary packte ihren Koffer aus und wieder ein und legte dann weiter Patiencen. Ich saß auf der Bank unter dem hohen Fenster, gegen das die Schneekristalle rieselten. Mlle. Tetreault bestrafte weiter ihre Haare. Im Gefängnis der gedämpften Geräusche aus dem Nachbarzimmer blieben unsere Gesten bedeutungslos. Ich nahm eine polnische Zeitung vom Fußboden und starrte sie an. Die Druckerschwärze befleckte meine feuchten Hände.
    «Ach je», murmelte Mary. In ihrem Gesicht kämpfte der gute Wille gegen ein anderes Gefühl. Sie winkte mich zu sich. Ziellos verteilte sie die Karten, und wir spielten Rommé. Mlle. Tetreault ließ endlich ihre Haarbürste sinken.
    «Ich gehe jetzt schlafen», verkündete sie laut.
    «Ist Ihnen nicht kalt?» fragte Mary mich. Ich nickte. Wir hörten, wie Mrs. Grassners Tür auf- und wieder zuging. Er war gegangen. Mary und ich warfen unsere Karten hin.
    «Eine alte Frau wie sie!» rief Mlle. Tetreault aus. «Wie kann er nur?»
    «Sie ist auch nicht älter als Sie», flüsterte Mary. «Und sprechen Sie leiser.»
    «Häßlich», sagte Mlle. Tetreault, aber mit gesenkter Stimme.
    «Sie tut ihm leid», sagte Mary zu mir. «Haben Sie das gesehen? Wie er ihr so nett und respektvoll zuhört? Wie er sie heute morgen auf dem Platz vor dem Wind geschützt hat? Haben Sie es bemerkt? Und außerdem ist es ihre Sache.»
    Ich dachte daran, wie ungeduldig und abschätzig Mrs. Grassner über ihre Probleme gesprochen hatte, als wäre sie von unbedeutenden Ereignissen um die wichtigen Dinge betrogen worden.
    «Es liegt bloß daran, daß er kein Jude ist»,

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