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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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nichts ein, außer daß sie aussah, als würde sie sich gut tragen lassen.

    Das alles geschah vor so langer Zeit, in einer anderen Welt. Helen Grassner wird heute tot sein. Der Tscheche Karel, der wie ein Junge aussah, ist alt. Wenn er noch lebt.

M arie
    V on den Kommunisten, die ich im Jahr 1940 in Los Angeles kannte, waren die meisten, wie ich mit der Zeit feststellte, Puritaner, die jedes Ereignis in ihrem Leben und selbst ihren Alltag nach einem unverrückbaren Gedankensystem interpretierten, das sie den Komplexitäten des Lebens gegenüber ebenso fühllos werden ließ wie die Kleinbürger, die Sinclair Lewis’ Romane bevölkerten.
    Ich war siebzehn. Ich hatte keine Familie, gegen die ich rebellieren konnte. Ich bezweifelte, daß der Tag kommen würde, an dem die Menschen den Wohlstand der Welt gleich und gerecht verteilten. Die heroischen Tugenden der Arbeiterklasse, zu der ich damals selbst gehörte, waren mir entgangen. Ich suchte nach Geborgenheit und Gemeinschaft. Wenn es einen nachvollziehbaren Grund gab, warum ich mich zu den Kommunisten hingezogen fühlte, dann waren es die Gleichberechtigung der Rassen, die sie predigten, und ihre festen Überzeugungen, die mich trösteten, wie es vor Jahren die Sonntagsschule getan hatte. Im Himmel gibt es keine Fragen.
    Mit dreiundzwanzig lernte ich in Warschau Marie kennen, die ungewollt dafür sorgte, daß jeglicher Rest von Glauben an die Herrschaft des Proletariats, den ich einmal gehegt haben mochte, aus meinen Gedanken verschwand.
    Mein Hotelzimmer war klein und kärglich eingerichtet: ein Feldbett, ein Klappstuhl, ein roh gezimmerter Kleiderschrank und ein kleines Waschbecken mit Wasserflecken, in das ein kaum hörbares Rinnsal aus dem Kaltwasserhahn tropfte. Mein kleiner Koffer stand auf dem Fußboden.
    Gleich hinter dem Bett ging ein Fenster auf eine Wand hinaus, die früher einmal zu einem prächtigen Wohnsitz oder einer Institution gehört haben mochte. Die Backsteine glitzerten im Frost, die geborstenen Fenster umrahmten Teilansichten des grauen Himmels. An vielen Tagen war mein Fenster von dichtem Schneefall verhängt, und ich hatte keinerlei Aussicht. Meistens wurde der Fußboden des Zimmers zweimal wöchentlich von einem der beiden Zimmermädchen gefegt. Das Zimmermädchen, das ich kennenlernte, hieß Marie.
    Sie war Ende Zwanzig, groß, breitschultrig, eine hagere Brünette. Sie hätte attraktiv sein können, hätte sie nicht ständig eine flehende Miene aufgesetzt. Wenn sie mich ertappte, wie ich sie neugierig betrachtete, dehnte sich ihr Mund zu einem beschwichtigenden Lächeln, das die Kühle ihres verschlossenen Wesens widerspiegelte.
    Sie war größer als ich, machte aber den Eindruck, sie sei kleiner. Sobald ich auf ihr Klopfen die Tür öffnete, neigte sie den Kopf und krümmte die Schultern, als wolle sie sich verbeugen, und bat um die Erlaubnis, mein Zimmer saubermachen zu dürfen.
    Sie war es, die Eimer für Eimer heißes Wasser aus der Küche die Treppe hinaufschleppte, um es in die einzige Badewanne in einem winzigen Raum mit einer Toilette am Ende des Korridors zu schütten. Aus den beiden Wasserhähnen darüber lief nur eiskaltes Wasser. Der Fahrstuhl des Hotel Centralny hatte seit dem Warschauer Aufstand nicht mehr funktioniert.
    Wenn ich mir vorstellte, wie Marie sich die Stufen hochquälte, den Eimer auf die Schulter wuchtete und ihn in die rostfleckige Wanne leerte, zögerte ich, mehr als einmal in der Woche um ein Bad zu bitten, und begnügte mich mit dem Waschbecken in meinem Zimmer.
    Gegen Ende Januar beauftragte mich die britische Nachrichtenagentur, für die ich arbeitete, Graf Radziwill zu interviewen. Ich sprach ihn eines Morgens an, als er das Senatsgebäude verließ, und wir verabredeten uns zum Mittagessen im Restaurant des Hotel Polonia.
    Um zwölf Uhr verließ ich mein Zimmer, um den kurzen Weg zum Polonia zu gehen; im Vorkriegswarschau wären es nur zwei oder drei Häuserblocks auf geräumten Bürgersteigen gewesen. Nun gab es keinen Bürgersteig mehr, bloß einen schmalen Pfad zwischen hohen, hartgefrorenen Schneewällen. Dem Hotel gegenüber reckten sich die ausgebombten Reste des Warschauer Bahnhofs in die Höhe, ein ungeheurer Haufen verbogener Stahlträger und verdrehter Schienenstränge, deren groteske Fahrt in den schneebeladenen Himmel allerdings abrupt endete.
    Ich ging an dem Zeitungsjungen mit dem Rattengesicht vorüber, der ein Bündel Zeitungen in der schmutzigen, klauenartigen Hand hielt.
    Die Straße

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