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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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ihr Gesicht. Sie zuckte zusammen, als wollte ich sie auspeitschen, und buchstabierte mit fast unhörbarer Stimme. Wir standen ein paar Schritte vom Empfangstresen entfernt, und sie schaute sich zum Portier um, als könne der sie retten.
    Ihre Reaktion hatte mich ebenso erschreckt wie ich sie, und ich suchte jemanden, der sie mir erklären könnte.
    Ein paar Stunden später traf ich einen englischsprechenden Journalisten, der schon länger in Warschau war als ich. Er verriet mir, Marie habe solche Angst bekommen, weil sie glaubte, ich sei mit ihren Diensten unzufrieden gewesen und wolle sie der Geheimpolizei melden. So sei es heutzutage dauernd bei den Polen, sagte er.
    Ich war am Boden zerstört.
    Die Linke hatte mir eine Weile Zuflucht geboten. Ich hatte ihre politischen Ziele nicht ernst genommen. Ich hatte nichts ernst genommen außer meinen Ängsten, die mich fast mein ganzes Leben lang verfolgt hatten und denen ich unwissentlich zu Willen gewesen war.
    Ich sah Marie noch einmal. Ich drückte ihr den Umschlag offen in die Hand, so daß sie die Ecke eines Złotyscheins sehen konnte. Sie lächelte, doch ein Anflug von Sorge lag noch in ihrer Miene, als sie mir dankte.

    Als ich Warschau am nächsten Morgen in einer nicht umgebauten Armeemaschine verließ, mußte ich an das Schiff denken, mit dem ich vor fast einem Jahr den Atlantik überquert hatte, an die schmalen Kojen oder die Hängematten, in denen die meisten von uns geschlafen hatten.
    Rechts und links vom Gang waren immer noch die alten Schalensitze angebracht, die dem Flugzeug den rigorosen, abgespeckten Anschein einer Kriegsmaschine gaben. Doch es gab auch eine Stewardeß, die so fehl am Platz wirkte wie die Gastgeberin einer Teegesellschaft im Luftschutzbunker.
    Gleich nach dem Start flogen wir dicht über eine Reihe deutscher Kriegsgefangener hinweg, die einen Graben für die Fundamente des neuen Flughafengebäudes aushoben – zu der Zeit gab es nur einen fensterlosen Schuppen.
    Der Pilot neigte den rechten Flügel steil nach unten, als wollte er die Kriegsgefangenen enthaupten. Sie zuckten erschreckt zusammen und duckten die Köpfe dicht über ihre Schaufeln. Die Passagiere, ich eingeschlossen, lachten herzlos.
    Einen Augenblick später stand mir das Bild Maries vor Augen; ihre Hilflosigkeit, als sie sich vorstellte, was die Geheimpolizei mit ihr anstellen könnte. Vor meinem geistigen Auge stand Bolesław Bierut am selben großen Fenster des Palastes, an dem ich selbst kurz gestanden und den Schnee auf ein Wäldchen hatte fallen sehen, das nach des Königs Wunsch einst Hirsche durchstreift hatten. War er jetzt der Palast der Arbeiter?
    Mein Wissen um den Sozialismus und seinen hitzigen Bruder, den Kommunismus, war immer lückenhaft gewesen, oberflächlich, ohne Urteil oder Verantwortungsgefühl. Einen Moment lang sank ich in dem Schalensitz zusammen, überwältigt von Reue und Selbstekel.

K inder der Tatra
    E iner der Orte, die ich während der Busreise mit anderen Journalisten besichtigte, war das ehemalige Jagdschloß eines preußischen Adligen im Tatragebirge an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze. Die polnische Regierung hatte es in eine Art Erholungsheim für Kinder umgewandelt, die in Konzentrationslagern geboren waren oder einen Teil ihrer Kindheit darin verbracht hatten. Ihre Eltern waren ausnahmslos von den Nazis umgebracht worden.
    Unsere kleine Journalistenreisegruppe kam eines Nachmittags nach einer langen, bitterkalten Fahrt durch die winterstille Landschaft am Schloß an. Es war noch nicht dunkel. Zwölf oder dreizehn Jungen und ein Mädchen sowie das spärliche Pflegepersonal lebten in dem großzügigen, aber trostlosen Haus. Die Wände waren kahl, es gab keine Teppiche auf dem Boden; in ein paar Zimmern lag immerhin noch Linoleum. Die großen Fenster waren weiß vom gleißenden Widerschein der schneebedeckten Berge.
    Es war unmöglich, das Alter der Kinder zu schätzen, so verkümmert waren sie. Sie freuten sich, Besuch zu bekommen, klammerten sich an uns, ergriffen unsere Hände, als sie uns ihr Klassenzimmer zeigten; einen ehemaligen Salon, der jetzt mit schmalen, ordentlich gemachten Betten vollgestellt war; eine Bibliothek, die schon lange keine Bücher mehr enthielt und auf deren Regalen nur noch ein paar Spielzeuge und Brettspiele standen; schließlich das Eßzimmer, wo wir an einem mit gelbem Wachstuch bezogenen Tisch ein frühes Abendessen einnahmen.
    Nach dem Essen gab Mary, die Engländerin, für die Kinder ein Konzert.

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