Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
ihrem Alltag geschleudert, trieben sie nun durch die europäischen Städte und warteten am Rande der Hoffnungslosigkeit auf eine Arbeitserlaubnis, die ihnen gestatten würde, ein Leben wiederaufzunehmen, das ihrem früheren ähnelte.
Ich erinnere mich an die alten Kleider, die sie trugen, zusammengesuchte Stücke, fadenscheinige dunkle Jacketts, von Bindfäden gehaltene Hosen; die vor Kälte geröteten Hände in zerrissene Taschen geschoben, standen sie stundenlang bei Wind und Wetter in der Nähe der Postämter und Banken herum, dort, wo Ausländer sich einzufinden pflegten.
Als ich in Paris den Zug bestieg, war ich zu jung und zu dumm, mich wegen meiner Fahrt in ein faschistisches Land zu sorgen; ich machte mir nur Gedanken um meine schmale Reisekasse. Doch zwei Tage nach meiner Ankunft in Barcelona wurde ich mit einem Mann bekannt gemacht, der meine Pfund zu gutem Kurs gegen Peseten umtauschte. (Die spanischen Banknoten waren in Leipzig gedruckt worden.) Er war Arzt und Republikaner, dem von den Falangisten verboten worden war, weiter zu praktizieren. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich durch allerlei Schwarzmarktgeschäfte. Unter der Woche fand man ihn in verschiedenen Cafés in Barcelona. An den Wochenenden ging er mit Dutzenden von Penicillinampullen in die Berge, um den versprengten Resten der republikanischen Kämpfer, die dort mit ihren Familien unter verzweifelten Umständen lebten, so gut er konnte, medizinisch zu helfen.
Tío Antonio war der letzte überlebende Bruder meiner Großmutter Candelaria. Ein paar Jahre meiner Kindheit hatte ich bei ihr verbracht, in den Vereinigten Staaten und auf Kuba. Ihr Bruder war der einzige Mensch, mit dem sie noch korrespondierte. Zu gern wollte ich einen Verwandten kennenlernen, der echter Europäer war.
Tío Antonio war Anfang siebzig; ein gutaussehender, wohlwollender Mann mit blauen Augen und dem großen Kopf eines Basken. Ein Teil des nördlichen Zweiges der Familie waren Basken aus Asturien.
Der Ursprung des baskischen Volkes liegt im dunkeln. Immer noch hat man keine Verbindung zwischen ihrer Sprache und den anderen europäischen Sprachgruppen gefunden. Es ist bekannt, daß sie vor den iberischen Stämmen in Spanien waren und den eindringenden Westgoten zähen Widerstand leisteten. Daß sie die Eroberer nicht gänzlich abwehren konnten, sieht man an der großen Zahl rothaariger und blonder Menschen in Spaniens nördlichen Provinzen.
Luisa – die Haushälterin von Tío Antonio, die eine Weile nach dem Tod seiner Frau auch seine Lebensgefährtin geworden war – erzählte mir, auch er sei einmal rothaarig gewesen. Als ich ihn kennenlernte, trug er eine schlohweiße Tonsur wie ein Mönch.
Es war ein sehr kalter Frühling, der dem, wie es hieß, kältesten europäischen Winter seit zwanzig Jahren folgte. Unter dem Tisch, an dem wir oft saßen, brannte ein Kohlenbecken. Aus einer Holztruhe holte Tío Antonio seine liebsten Bücher, um sie mir zu zeigen. Einige stammten von seinem Freund, dem spanischen Philosophen Ortega y Gasset. Als junger Mann hatte er Ortega oft nachmittags in einem der Cafés an den Ramblas getroffen, um dickflüssige spanische Schokolade zu trinken und über spanischen Katholizismus, Politik und das Leben zu plaudern.
Tío Antonio besaß eine kleine alte Hündin. Ihr Alter konnte er nur schätzen. Er hatte sie von seinem Fenster aus entdeckt. Sie stand, offenbar vor Schreck gelähmt, auf den Eisenbahnschienen, die hinter seinem Haus verliefen. Er hatte sich gerade von einer schweren Lungenentzündung erholt, war noch sehr schwach und konnte kaum laufen. Doch mit Luisas Hilfe stieg er die lange Treppe hinunter (es gab zwar einen Aufzug im Treppenschacht, doch der funktionierte schon seit Jahren nicht mehr, auch nicht, als ich zu Besuch war) und ging zu den Gleisen hinaus, wo er den Hund nach beinahe einer Stunde zu sich locken und dann hinauf in seine Wohnung tragen konnte. Im Grunde war es ein Segen, sagte er, daß die Züge so unregelmäßig verkehrten.
Er nannte die Hündin Perlita – Kleine Perle. Perlita war ein steifbeiniges Tier mit weißem Fell, das ein paar senfgelbe Flecken aufwies. Sie sah aus wie ein Zirkushund auf einem alten Kupferstich. Nicht unfreundlich, trug sie doch einen gewissen Lebensüberdruß zur Schau; diese Hündin hatte zu viel gesehen und durchgemacht, um sich noch für irgend etwas zu begeistern. Doch ihre Ernsthaftigkeit und ihr seltsam professionelles Aussehen waren ungeheuer liebenswürdig.
Die
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