Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Sie lauschten mit hingerissener Aufmerksamkeit, wie sie in einer Sprache sang, die sie nicht verstanden – wohl aber die Musik.
Nur ein jugoslawischer und zwei tschechische Journalisten sprachen Polnisch. Wir anderen waren vom Dolmetscher abhängig. Die Kinder wollten alles wissen: Wo wir hergekommen waren und warum? Ob wir in Häusern lebten? Wie sie aussahen? Ob wir Kinder hatten, und wo sie waren, während wir so weit weg waren? Hatten wir sie bei Verwandten oder bei Fremden gelassen?
Von ihrer eigenen Geschichte sprachen sie nur in indirektesten Andeutungen und nicht immer mit Worten. Bei jeder plötzlichen Bewegung wurden sie schmerzlich wachsam, und mitten im Vergnügen verfielen sie oft in abruptes Schweigen, wobei sie verstörenden Träumen nachzuhängen schienen, die wie Suchscheinwerfer über ihre Gesichtszüge huschten, um dann wieder ebenso unvermittelt in hektisches, ja frenetisches Gelächter auszubrechen.
Ein Junge, dessen Name dem englischen Richard entsprach, bat mich durch den Dolmetscher, ihn so anzureden. Er wollte seinen polnischen Namen nicht mehr, hatte ihn weggeworfen. Er bat, ich möge ihn in einen der ausgedehnten Gärten begleiten, die ich schon bemerkt hatte, als wir uns dem großen Haus genähert hatten. Ich hatte den Jungen für etwa neun Jahre gehalten. Man sagte mir, er sei vierzehn.
Wir gingen durch die Terrassentüren des Eßzimmers nach draußen. Es war inzwischen fast dunkel, doch auf einigen Berghängen lag noch rosiges Licht. Er hielt meine Hand, als wir einen teilweise geräumten Weg entlangschritten, rechts und links die vom Schnee beschwerten Zweige der Büsche, über uns die kahlen Äste der winterschwarzen Bäume. Es war ein düsterer, frostiger, einsamer Ort, das erstarrte Herz des Winters. Er lief ein paar Schritte voraus und wischte mit Armen und Beinen den Schnee von einer Säule, wie ich zunächst dachte, auf der einmal eine mythische oder heroische Statue gestanden haben mochte. In Wirklichkeit war es ein sehr großes Vogelbad.
Mit einem Lächeln deutete er zum Himmel. Dann schlug er mit den Armen wie mit Flügeln, langsamer und langsamer, als die Flügel, die er nachgeahmt hatte, tatsächlich um ihn flatterten und ein Vogel sich auf dem Rand des Beckens niederließ. Der Junge drehte den Kopf und beugte sich dann vor, als wolle er trinken. Dann flatterte er noch einmal mit den Händen; machte mit den Armen Flugbewegungen, der Vogel flog davon.
Ich applaudierte. Er tanzte triumphierend und schüttelte dann mit leisem Glucksen – womöglich waren es auch polnische Worte – den Schnee von einem benachbarten Busch, winkte mich heran, sein Tun genauer zu betrachten, legte die Hände unterm Kinn zusammen und bog sie dann allmählich auseinander. Ich begriff und schob mit dem Fuß etwas Schnee beiseite. Der Boden sah aus wie Eisen.
Ich bückte mich und formte mit meinem Arm einen Halm, der aus der Erde wuchs. Dann öffnete ich die Hand und roch an den Blütenblättern einer imaginären Blume. Er lachte kurz auf, ergriff meine Hand und drückte sie gegen seinen Kopf. Offenbar wollte er mir sagen, ich hätte begriffen, daß er das Kommen des Frühlings dargestellt hatte.
Bevor wir sie am Abend wieder verließen, sangen die Kinder für uns. Ihre Gesichter waren von der Freude des Vortrags gerötet. Als wir abfuhren, drängten sie sich um das große Eingangsportal des Schlosses, kümmerliche, weinende kleine Gestalten. Still standen sie vor der Tür, während wir den Pfad zu unserem Bus entlangschritten. Doch als er losfuhr, sahen wir, wie sie uns eifrig hinterherwinkten, um uns eine gute Reise zu wünschen.
P erlita
M ein Großonkel Antonio de Carvajal lebte in einer sehr alten umgebauten Villa an einer der Ramblas genannten breiten Avenuen Barcelonas. Im Frühjahr 1947 hatte ich meine Arbeit für Sir Andrew beendet und Paris verlassen, um ihn zu besuchen. Ich besaß umgerechnet hundert Dollar, von denen ich einen Monat in Spanien zu leben hoffte: der gesparte Lohn für meine Arbeit als freie Korrespondentin in Osteuropa. Das ließ kaum Spielraum fürs Herumreisen, aber nach fast einem Jahr im Nachkriegseuropa war ich geübt darin, meine wenigen englischen Pfund zum besten Wechselkurs in fremde Währungen einzutauschen.
Solcher Devisenhandel wurde von professionellen Schwarzhändlern betrieben, aber auch von Menschen, die früher Lehrer, Ingenieure, Schauspieler und Musiker gewesen oder anderen, heute nutzlosen Beschäftigungen nachgegangen waren. Vom Krieg aus
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