Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
wirkte wie der Mittelpunkt eines Jahrmarktes, wie ein Fest, dessen Grund längst in Vergessenheit geraten war, und die Musik, die durch die frostige Luft trieb, erfüllte meine Gedanken mit Klarheit und romantischem Wohlwollen, dem die Krater und Ruinen rings um mich herum widersprachen.
Im Polonia war ich von Sesseln und Sofas umgeben, von Teppichböden und uniformierten Angestellten. Leben im Hotelfoyer, wie es einst gewesen war.
Es war zu früh für meine Verabredung zum Mittagessen, also ging ich die Treppe hinauf, um mich von Larry C., einem Korrespondenten von Associated Press , zu verabschieden, denn ich sollte Warschau am folgenden Tag verlassen.
Er öffnete die Tür mit dem üblichen ungläubigen Grinsen, das er selbst vielleicht gar nicht bemerkte und das allen, die ihn ansahen, sagte: Zeig es mir! Beweis es! Wetten, daß nicht?
Ich fragte ihn, wo er am Wahltag gewesen sei. Seitdem hatte ich ihn nur von weitem bei den Pressekonferenzen im Außenministerium gesehen.
«Da gab es doch nichts zu sehen», antwortete er. «Keinerlei Überraschungen.»
«Ich weiß», sagte ich leicht defensiv. «Aber in Radom, wo ich war, bin ich einem alten Mann begegnet, so um die Achtzig, der zum ersten Mal im Leben wählen ging.»
«Ach was?» entgegnete er sardonisch. «Wen er wohl gewählt hat?»
Die Intensität, mit der ich gesprochen hatte, war mir peinlich. Es war ein Aufflammen des alten Feuers, meines Sinns für die Ungerechtigkeiten der Welt. Wieder einmal hatte ich eine Tat um ihrer selbst willen beurteilt, ohne an ihre Folgen zu denken.
Vielleicht seufzte ich. Er sah mich mit unerwartetem Mitgefühl an, fragte, ob ich in die guten alten Staaten zurückkehre. Nicht gleich, antwortete ich. Ich wollte nach Spanien reisen und einen Verwandten besuchen. Das Mitgefühl verschwand aus seinem Gesicht. «Dann viel Spaß», sagte er.
Ich verließ sein Zimmer und ging hinunter, um den Grafen zu treffen. Als ich am Eingang des Speisesaals stand, lächelte mich ein kleiner, kräftig gebauter Herr an, der Wichtigkeit ausstrahlte, er kam ein paar Schritte auf mich zu, nahm mich am Arm und geleitete mich zu dem Tisch, den er reserviert hatte – obwohl ich das Essen bezahlen würde.
Ich hatte kein Spesenkonto, und zu meinem wachsenden Unbehagen bestellte er einen Gang nach dem anderen. Ich aß nur eine Suppe, so langsam ich konnte.
Der Graf erzählte mir, daß seit dem sechzehnten Jahrhundert immer ein Radziwill im polnischen Senat gesessen habe, und so auch in der kommenden Legislaturperiode. Er hatte die nötigen Stimmen gegen die Kommunisten gewonnen, erklärte er mit aristokratischer Selbstironie, weil die Partei einen Vertreter des alten Polen im Parlament haben wollte.
Als Zugeständnis an Präsident Bierut war er auf seine Ländereien im östlichen Polen gereist und hatte sie unter seinen Bauern aufgeteilt. Dort hatte er in einer Hütte mit ihnen gefeiert. Mit ironischem Lächeln erzählte er mir, welchen Trinkspruch sie mit dem Schnaps, den er geliefert hatte, ausbrachten – Tod den Mongolen! Er lachte laut über die Komik der Situation.
Ich fragte ihn, wie er während der deutschen Besatzung zurechtgekommen sei. Er berichtete, er habe mehrere Jahre im Konzentrationslager gesessen. Einmal habe er versucht zu fliehen, doch als er um ein Uhr morgens über den Appellplatz lief, hatte ein Wächter ihm in die Wade geschossen. Im Gegensatz zu anderen Gefangenen hatte man ihm die Gnade eines Betäubungsmittels erwiesen, als ein Arzt die Kugel aus seinem Bein holte.
Als er das Bewußtsein wiedererlangte, waren seine ersten Worte: «Werde ich je wieder reiten können?» Er lächelte mich an und nickte; sicher nahm er an, ich wüßte, daß er über Pferde gesprochen hatte.
Im großen und ganzen verbrachte ich die Zeit mit ihm recht angenehm, auch wenn die Rechnung unangenehm war. Als wir uns am Hoteleingang trennten, betrachtete er mich mit höfischem Amüsement. «Ich hoffe, wir sehen uns wieder», sagte er. Ich wußte, daß das nie geschehen würde.
Ich kehrte ins Centralny zurück. Eine Sache mußte ich noch erledigen: meine restlichen Złotys in einen Umschlag stecken, den Marie bekommen sollte. Als ich ankam, lehnte sie mit dem Ellbogen auf der kleinen Theke, hinter der ein Portier stand. Verstohlen flüsterte sie ihm etwas zu; anscheinend hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Arbeitszeit verplauderte. Nachdem wir einander begrüßt hatten, fragte ich sie nach ihrem Nachnamen.
Furcht huschte über
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