Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
der das Instrument mit Versen über Kummer, Fleischeslust und Tod begleitete – die Antithese zu der sanften christlichen Kirchenmusik, die ich in meinen ersten Lebensjahren gehört hatte.
Das Publikum hörte, wie die Tür aufging; die männlichen Zuschauer drehten sich um und starrten mich an, die Tänzer hielten inne, der Gitarrist stockte, seine Hand hing in der Luft. Ich wurde rot. Sofort hatte ich gesehen, daß eine der Tänzerinnen von der Hüfte bis zu den schwarzen Schuhen mit den dicken Absätzen nackt war. Ich trat den Rückzug auf die Gasse an, und das Feuer in meinem Gesicht wurde von gnädigem Dunkel verhüllt. Das Gelächter der Männer folgte mir bis zur Hauptstraße. Ich hatte die Tür eines Freudenhauses geöffnet.
Am nächsten Morgen trafen wir uns im Bahnhof von Barcelona und bestiegen einen Wagen der dritten Klasse. Sieben oder acht Leute hatten bereits im großen Abteil Platz genommen, darunter ein Gendarm der Guardia Civil, eine alte Frau und ein Mann, der sich als Arzt entpuppte, wie der Schwarzhändler, bei dem ich am Tag nach meiner Ankunft Pfund gegen Peseten getauscht hatte.
Auch dem Arzt im Zug war vom Franco-Regime verboten worden, seinen Beruf auszuüben. Er verdiente sich einen kümmerlichen Lebensunterhalt als Assistent eines Augenarztes in Madrid. Er war in beruflichem Auftrag nach Barcelona geschickt worden. Mehrere Passagiere saßen zwischen ihm und dem Gendarmen, doch der Arzt sah furchtsam zu dem Uniformierten hinüber. Als der Zug den Ebro überquerte, flüsterte er mir zu: «Hier sind viele tapfere Männer im Kampf gegen die gefallen.»
Ich übersetzte für Marjorie, während Harold versuchte, eine Zeitung aus Barcelona zu entziffern, die er am Bahnhof gekauft hatte.
Ich hatte dem Arzt erzählt, daß meine Mutter Spanierin war, und wegen des Jahres, das ich auf einer Plantage in Kuba verbracht hatte, sprach ich immer noch flüssiges Spanisch. Aber der Arzt bemerkte meinen, wie er es nannte, «Antillen-Akzent». Er sagte es mit einem reizenden Lächeln.
Auf einmal wurde mir klar, daß ich tatsächlich halbe Spanierin war, und Stolz darüber erfüllte mich, obwohl ich wußte, wie armselig solcher Stolz ist.
Tío Antonio hatte von zwei entfernten Cousinen erzählt, die in einem heruntergekommenen Schloß mit Namen Mondragón in Asturien lebten. Sie waren also auch mit mir verwandt, obwohl solche Verwandtschaft nur noch wenig bedeutet, wenn ein bestimmter Grad der Entfernung erreicht ist. Auf dem Gut Mondragón stand eine kleine Kapelle, und im Türsturz waren folgende Worte eingraviert: DEM HEILIGEN ANGEDENKEN DES DON FELIX DEL CAMINO, INQUISITOR FÜR NORDSPANIEN . Dahinter stand eine Jahreszahl aus dem sechzehnten Jahrhundert, wahrscheinlich sein Todesjahr.
Am Ende des Bürgerkriegs waren die beiden älteren Damen Witwen. Nur wenige Monate später starben beide innerhalb weniger Wochen, und ich hatte vergessen, meinen Großonkel zu fragen, wem das Schloß jetzt gehörte. Vielleicht hatte ich mich zu sehr über seine Geschichte über einen der Söhne der Witwen amüsiert. Sie hatten beide einen Sohn, von denen der eine auf seiten General Francos kämpfte und gleich zu Beginn des Bürgerkriegs fiel. Der andere war Bluter und daher von der Falangistenarmee als untauglich abgelehnt worden. Doch er hatte eine Berufung.
Die Witwen bekamen von der Regierung eine kleine Pension als Gegenleistung dafür, daß sie Touristen, die nach Asturien reisten und von Mondragón gehört hatten, durch die Kapelle und verschiedene Räume im Schloß führten. Die beiden Schwestern beschäftigten einen Teilzeitdiener. Normalerweise lief er barfuß herum, doch wenn sich Besucher angekündigt hatten, zog er Schuhe und weiße Handschuhe an und geleitete die Gäste zunächst in die Kapelle, dann in die zur Besichtigung freigegebenen Zimmer des Schlosses.
In einem der großen Salons, dessen Wände mit zerschlissener, verblichener Seide bespannt waren, stand kein Möbelstück mehr außer einer Tischtennisplatte, auf der rechts und links des Netzes je ein Schläger lag. In diesem Raum pflegte die Mutter des Bluters vorzutreten und den Besuchern zu erzählen, daß ihr Sohn wegen seiner Krankheit von der Armee abgewiesen worden sei. Aber immerhin war er spanischer Tischtennismeister.
Wir waren ein paar Stunden gefahren, als der Mann von der Guardia Civil ein Eßgeschirr aus seinem Marschgepäck nahm. Unverzüglich begann er seine Tortilla und ein Stück Brot zu verzehren.
Augenblicklich erschien
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