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Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)

Titel: Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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eigene Probleme mit sich. Ich stellte die anderen Kinder vor ein Rätsel. Ich war blond, und man hätte mich für eine Skandinavierin halten können. Ein südspanischer Zweig meiner Familie stammte direkt vom Emirat von Granada ab. Hätten die anderen Kinder geahnt, daß ich arabische Vorfahren aus Nordafrika hatte, wären sie womöglich völlig mit ihrem Latein am Ende gewesen oder hätten mich aus der Schule gejagt. So aber wußten sie nicht recht, was sie mit mir anstellen sollten. Sie gaben sich schließlich mit einer Art Mittelweg zufrieden: Ab und zu quälten sie mich, und wenn sie vergaßen – wie es Kinder oft tun –, warum sie mich eigentlich quälten, waren sie freundlich zu mir. Gegen Ende meiner Grundschulzeit wurde ihre Aufmerksamkeit durch zwei neue Jungen abgelenkt, ebenfalls «Ausländer»: ein Armenier und ein Frankokanadier, dessen Akzent ebenso heftig war wie der meiner Großmutter. Wir drei steckten schnell unser eigenes kleines Terrain ab.
    Als Tío Antonio mir erzählte, womit er die ausgehungerte Perlita gefüttert hatte, kam mir einen intensiven Moment lang meine verwirrende, schmerzliche Schulzeit in den Sinn. Nun sah ich Perlita mit kameradschaftlichem Blick. Knoblauch hatte sie gerettet. Gewissermaßen hatte er auch mich gerettet, weil er meine Stellung als Außenseiterin festigte und so verhinderte, daß ich allzu leicht gedankenlose Ansichten über nationale Überlegenheit verinnerlichte: ein in unserem zu großen Teilen aus Deportierten, Gefangenen und Einwanderern hervorgegangenen Land in grotesker Weise vorherrschendes Phänomen.

    Wenn ich an Spanien denke, sehe ich meinen Großonkel vor mir, am Tisch sitzend, dessen Holz noch von der Glut des Kohlenbeckens erwärmt ist, Miguel de Unamunos Das tragische Lebensgefühl aufgeschlagen vor sich, aus dem er mir vorliest, und Perlita still neben ihm stehend. Nach einer Weile scheint sie das Gefühl zu haben, sich gefahrlos niederlegen zu können, den Rücken nur ein paar Zentimeter vom Kohlenbecken entfernt, und wenige Minuten später ist sie eingeschlafen.
    Ich sehe die großen schwarzen Steine der Polizeistation. Ich ging tatsächlich hin, um sie mir anzuschauen. Während ich auf der Straße stand, kam ein Mann aus dem Gebäude. Er trug den dünnen, weißen Regenmantel, den alle Polizisten der politischen Abteilung trugen, wie ich gelernt hatte. Auch für faschistische Polizisten galten also Modediktate.
    Aus dem, was er lächelnd zu mir sagte, wurde deutlich, daß er mich für eine junge Frau aus Asturien hielt. Darüber empfand ich flüchtige Genugtuung – nicht für eine Ausländerin gehalten zu werden. Als ich widerwillig den Kopf schüttelte, fragte er mich, ob ich Engländerin sei. Ich sagte, ich käme aus den Vereinigten Staaten. «Sie glauben wahrscheinlich, daß wir hier drüben kleine Kinder fressen», sagte er. Das glaubte ich tatsächlich, aber ich sagte es nicht.
    Ich denke an das, was man «politisches Leben» nennt, ein so abstrakter Begriff, bis man den Knüppel im Rücken spürt. Ich denke an die Geisteshaltung, die einen kranken, alten Mann aus dem Haus treibt, um ein streunendes Tier von den Bahnschienen zu retten. Und ich denke an den Bürgerkrieg, an die junge Cousine aus Cádiz und ihre Grausamkeit aus ideologischer Verblendung, an die Aufweichung und schließlich die Zerstörung familiärer Bindungen und menschlichen Mitgefühls.
    Doch was ich heute, sechs Jahrzehnte später, am lebendigsten sehe, ist die gerettete Perlita!
    Wenn ich sie mit meinem geistigen Auge betrachte, werde ich nicht an die Würde oder Erhabenheit des menschlichen Geistes gemahnt, sondern eher an seine spontane Fähigkeit zu umfassender Anteilnahme auch in schwieriger Lage, an seine rettende Demut.

R ückkehr
    A n meinem letzten Abend in Barcelona suchte ich nach einer Bar, in der ich Flamenco hören konnte. Ich hatte mich mit Marjorie getroffen, einer Freundin aus Kalifornien, und Harold, ihrer Reisebegleitung aus New York. Die beiden wohnten im Hotel, während ich bei Tío Antonio war. Am nächsten Morgen wollten wir drei zusammen mit dem Zug nach Madrid fahren.
    Ich lief durch die Straßen der Stadt, bis ich aus einer schmalen, dunklen Gasse den Klang von Kastagnetten und auf den Boden knallenden Absätze hörte, dazwischen aufbrandenden Applaus, dann wieder plötzliche Stille, als würde der Augenblick den Atem anhalten und endlich mit der flammenden Intensität der Gitarrenakkorde und der rauhen Stimme des Sängers wieder loslassen,

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