Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
eine Bettlerin an der Tür des Abteils und hielt ihm stumm die Hand entgegen. Der Gendarm riß ein kleines Stück Brot ab und legte es in ihre zerfurchte, schmutzige Handfläche.
« ¡Que richess a la da! » rief die alte Frau, die mit uns im Abteil saß, mit ironischem Lächeln. Der Gendarm grunzte nur und sah nicht von seinem Eßgeschirr auf.
Mehrere Stunden später hielt der Zug kurz an einer Station namens Alcalá de Henares. Alle im Abteil wandten sich mir zu, sogar der Gendarm. Ihre Gesichter waren ausnahmsweise offen und ohne Furcht. Die alte Frau sagte: «Dies ist der Geburtsort von Miguel de Cervantes Saavedra!»
Im Bahnhof von Madrid erblickte mich ein Trupp Soldaten, die vielleicht auf ihren Zug warteten, und einige riefen: « ¡Andaluz! » Das war ein Witz. Andalusier sind häufig eher klein von Gestalt und dunkelhaarig. Ich war blond und groß. Doch in ihrem Spott fand ich einen gewissen Trost – wieder wurde ich für eine Spanierin gehalten.
Marjorie war freie Publizistin. Als wir in Madrid waren, nahm sie Kontakt mit einer Frau auf, die ihr in New York City als Sympathisantin der Republikaner genannt worden war. Die meisten von ihnen – hatte mir der Arzt im Zug erzählt – zogen in kleinen Gruppen durch die Berge rund um Madrid. Ich nahm an, die Falangisten wußten von der Existenz dieser Gruppen – was sonst? – warteten aber eher darauf, daß diese von allein ausstarben, als sie anzugreifen. Es waren erbärmlich wenige übriggeblieben. So viele waren aus den Hochburgen in den Bergen zurück in ihre Dörfer und Städte gegangen, wo sie hofften, sich als schattenhafte Existenzen, als Assistenten und Angestellte irgendwelcher Art, wieder ins Leben eingliedern zu können, vor allem die Akademiker unter ihnen, die Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte.
Marjorie und ich besuchten die Frau an unserem dritten und letzten Tag in der Hauptstadt. Sie wohnte in einem Mietshaus unweit der Puerta del Sol, dem Stadtzentrum Madrids. Wir klingelten an der Tür ihrer Wohnung im zweiten Stock. Ich hörte ihre Schritte zur Tür kommen, doch dann zögerte sie, bevor sie mit verschrecktem Gesicht öffnete und uns einließ.
Sie lebte in ständiger Furcht vor den Tagen, an denen die Policia Falangista vor ihrer Tür stand, erzählte sie uns. Die verhörte sie regelmäßig. Sie hatte den Verdacht, daß sie um ihre Kontakte zu den Antifaschisten wußten. Wußten sie auch, fragte sie sich, daß sie den Anführer der Untergrundbewegung von Madrid traf? Sie kamen immer am späten Nachmittag zu ihr, klingelten genau zu der Zeit an ihrer Tür, zu der sie ihre zwölfjährige Tochter von der Schule zurückerwartete.
Ich stellte mir vor, welche Ängste sie täglich ausstehen mußte, bevor sie erkannte, ob eine Kinderhand oder eine Polizistenhand die Klingel gedrückt hatte, und wie erleichtert sie sein mußte, wenn sie ihre Tochter in der Tür stehen sah.
Wir blieben zwanzig Minuten bei ihr und fragten sie, wie sie sich durchs Leben schlug, wie oft sie den Untergrundführer traf, wie es den Flüchtlingen in den Bergen ging, unter denen sich auch ihr Ehemann befand, der den Namen in seinem Paß geändert hatte, um sie und ihr Kind nicht zu gefährden.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, gingen wir direkt zu der Adresse, die sie uns gegeben hatte: zum Chef des Madrider Untergrunds, den Marjorie interviewen wollte. Er war ein älterer Mann mit Brille, die er alle paar Sekunden abnahm. In manchen Momenten wurde er lebhaft, aber meist schien er ratlos, und er verriet uns mehr persönliche Details, als er eigentlich wollte; eine subtile Aura der Niederlage schwebte wie Staubflocken um sein verwirrtes Wesen.
Harold, der sich weniger für Politik interessierte, war ins Museum gegangen. Wir trafen ihn wie verabredet am späten Nachmittag in einem Café. Von dort gingen wir zum Bahnhof und nahmen einen Zug nach Valencia. Harold und Marjorie freuten sich schon darauf, einen Stierkampf anzusehen, und ich versuchte, mein Erschauern zu unterdrücken, wenn sie davon sprachen. Als der Zug kam, trennten wir uns: Marjorie und Harold gingen in die zweite Klasse, für die er Fahrkarten gekauft hatte, ich in die dritte.
Ich setzte mich neben eine stattliche junge Frau, die mir erzählte, sie sei unterwegs zu einem Gefangenendorf westlich von Valencia, wo sie ihren Mann besuchen wolle. Bis dahin hatte ich noch nichts von solchen Gefangenendörfern gehört. Sie sagte, die Gefangenen würden das Dorf selbst kontrollieren, aber wenn sie es zu
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