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Der Kaffeehaendler - Roman

Der Kaffeehaendler - Roman

Titel: Der Kaffeehaendler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Liss Almuth Carstens
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Urinfluss an. Und hier war er, mit voller Blase und ohne Möglichkeit, sie zu entleeren, außer in den Kanal. Es waren Frauen auf dem Boot, und obgleich ein Holländer sein Geschäft ohne Bedenken erledigt hätte, konnte Miguel sich nicht dazu überwinden. Er wollte nicht, dass eine Gruppe unbekannter Holländerinnen auf sein beschnittenes Glied starrte und zeigte.
    Nur noch eine Stunde bis Rotterdam, sagte er sich. Sein alter Partner Fernando de la Monez würde die Stadt bald verlassen und nach London zurückkehren, wo er, wie er es in Lissabon auch getan hatte, heimlich als Jude lebte. Kein noch so hoher Geldbetrag hätte Miguel dazu bringen können, zum Gebet wieder verdunkelte Räume aufzusuchen, wo er in völliger Unkenntnis einem Anschein von jüdischem Ritual folgte, während die Welt draußen ihn lieber tot gesehen hätte, als diese würdelosen Gottesdienste im Verborgenen zu gestatten. In seinen Briefen hatte Fernando betont, dass es in London nicht ganz so schlecht stünde. Dort, so meinte er, wüsste die Geschäftswelt, dass er und seine Landsleute Juden waren, aber sie hätte nichts dagegen, so lange sie ihre Religion diskret ausübten.
    Es waren vielleicht noch ein Dutzend Menschen außer ihm auf dem langen, leuchtend roten Boot, das von einem stetig am Kanalufer entlangtrabenden Pferdegespann gleichmäßig dahingezogen wurde. Das Gefährt war flach, eher ein Floß als ein Boot, aber stabil, und es hatte in der Mitte einen hüttenartigen
Aufbau, wo die Passagiere bei Regen Zuflucht suchen konnten. Miguel war schon auf größeren Schleppkähnen gewesen, manche so groß, dass ein Wirt den Mitreisenden Bier und Gebäck verkaufte, doch dieses Transportmittel war zu klein für derartige Annehmlichkeiten.
    Miguel achtete nicht auf die anderen Fahrgäste; er entfloh dem Nebel in den geschlossenen Raum und versuchte, sich mit einer Geschichte über den verwegenen Pieter von seiner Blase abzulenken. Es war eine, die er schon oft gelesen hatte; sie handelte von den grausamen Besitzern eines Landgutes, die ihre Pächter der Ernte beraubt hatten. Pieter und Mary geben vor, Reichsverweser zu sein, die daran interessiert sind, das Land zu kaufen, und sobald sie das Vertrauen der Besitzer errungen haben, rauben sie sie in der Nacht aus und halten auf dem Rückweg im Dorf an, um den Bauern zurückzugeben, was ihnen gehört.
    Bis zur Ankunft des Bootes hatte Miguel das Heftchen zweimal durchgeblättert, und jetzt beeilte er sich, eine abgelegene Stelle zu finden, wo er sein dringendes Bedürfnis befriedigen konnte. Nachdem er sich erleichtert hatte, schaute er sich in der Stadt um. In mancher Hinsicht war Rotterdam eine kleinere, adrettere Version von Amsterdam. Er war oft genug hier gewesen, um sich auszukennen, und fand die Schenke, die Fernando ihm genannt hatte, ohne Schwierigkeiten. Dort traf er auf seinen Freund und erörterte mit ihm die Einzelheiten von Fernandos Aufgabe an der Londoner Börse. Fernando schien verwundert über die Beharrlichkeit, mit der Miguel betonte, dass der Handel zu einem bestimmten Zeitpunkt abgewickelt werden müsse, doch er willigte trotzdem ein, nachdem Miguel ihm versichert hatte, dass nichts, was er tat, einen Verdacht auf ihn oder die machtlose jüdische Gemeinde in London lenken würde.
    Es war spät, als sie ihr Gespräch beendet hatten, und
Miguel nahm Fernandos Angebot, über Nacht in Rotterdam zu bleiben, an. Er besuchte den Abendgottesdienst in der kleinen Synagoge und bestieg am nächsten Morgen das Boot nach Amsterdam. Dort setzte er sich auf eine hölzerne Bank, schloss die Augen und dachte darüber nach, was er noch zu erledigen hatte, bevor das Kaffeefrucht-Projekt unter Dach und Fach war. In der Kühle des Morgens schlief er ein – für wie lange, wusste er nicht – und wachte von seinem eigenen Gebrummel aus einem verschwommenen Traum auf. Voller Verlegenheit schaute er sich um, um zu sehen, wer ihn wohl gehört hatte. Ein schneller Blick verriet ihm, dass er niemanden kannte, und er hätte sich fast wieder seinen Überlegungen zugewandt, als etwas seine Aufmerksamkeit fesselte. Ganz hinten im Boot saßen, in ein leises Gespräch vertieft, zwei schmuck gekleidete Herren. Miguel wagte nur einen flüchtigen Blick auf sie, aber der genügte ihm, um zu erkennen, dass sie Bärte trugen. Gewiss, sie waren sehr kurz gestutzt, doch Bärte allemal. Der eine Mann war besonders dunkelhäutig, und sein kurz geschorenes Gesichtshaar zog sich wie eine schwarze Flechte bis zur Kehle

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