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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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Berühmtheit, ein Wunder der Natur, sie brauche jetzt ihren Schlaf.
    Großvater erzählte das alles so lebhaft, dass sogar die chinesischen Reisenden auf den Plätzen um uns ihre Gespräche einstellten, um ihm zu lauschen. Hin und wieder, wenn es ihnen passend erschien, lachten sie laut oder seufzten mitfühlend. Großvater blickte dann zufrieden in die Runde, ließ sich von irgendwem ein neues Getränk bringen und erzählte weiter.
    Das erste Mal zu Gesicht bekommen sollte er Lian am folgenden Tag. »Es war«, sagte er, »keine Liebe auf den ersten Blick«, da müsste er lügen, aber schon von der ersten Sekunde an sei ihm klar gewesen, dass sich keine Frau mit Lian jemals würde messen können.
    Als er am Nachmittag das Variete betrat, erzählte Großvater, seien alle schwer beschäftigt gewesen, Seile wurden gespannt, Positionen abgemessen, es wurde gebohrt und gesägt und gehämmert, im Foyer dehnten die Akrobaten ihre Muskeln, die Seiltänzerin balancierte im Rang auf der Balustrade, in der Garderobe regte der Schwertschlucker mit ein paar Dolchen seinen Appetit an, nur Lian tat gar nichts, sie thronte regungslos auf einem Diwan im Hinterhof des »Tamtam«, zwei Ananasscheiben lagen auf ihren Augen, ein junger Chinese fächelte ihr Luft zu, ein anderer massierte ihre Schultern mithilfe einer Art Holzpaddel, ein dritter schob ihr regelmäßig einen Löffel Eiscreme in den Mund. Nie zuvor, sagte Großvater, habe er eine Frau solchen Ausmaßes zu Gesicht bekommen. Wie gelähmt sei er gewesen, unfähig, seine Augen von dieser ausufernden Körperlichkeit zu lösen, von der Unmenge an Kinnen, von den prall gefüllten Hautlappen, die dicht geschichtet an Armen und Beinen hinabhingen , am wenigsten vom kleinen Finger, der wie eine übersättigte Made aus dem Fleischbrocken ihrer Hand herauskroch .
    Der junge Chinese, der Lians Nacken massierte, habe ihn schließlich bemerkt und, wortreich das Paddel schwingend, davongejagt, und erst als sich Großvater im Foyer wieder in Sicherheit wähnte, habe er bemerkt, dass er eine Erektion hatte.
    Von der Aufführung am Abend bekam er wenig mit, die ganze Zeit über wartete er auf Lians Auftritt, der als Höhepunkt natürlich erst am Schluss erfolgen würde. Nachdem der Direktor der Truppe mit vielen, meist unverständlichen Worten eine »Weltsensation« angekündigt hatte, wurde zunächst der Wagen mit Lians Hanteln von vier der muskulösesten Akrobaten der Truppe unter lautem Stöhnen auf die Bühne gezogen. Um zu beweisen, dass man es hier mit keinem billigen Trick zu tun hatte, bat Meister Hu nach und nach immer mehr Männer aus dem Publikum nach vorne, um die Gewichte vom Wagen zu heben, am Ende waren es zwölf, und allen stand der Schweiß auf der Stirn.
    Dann wurde es dunkel, nur ein einziger Scheinwerfer richtete sich auf die Hanteln, niemand im Zuschauerraum wagte auch nur zu atmen, am wenigsten Großvater selbst. »Ich wusste, dass sich in einer Sekunde mein Leben ändern würde«, erzählte er. »Ich wusste nicht, ob zum Guten oder Schlechten, ich wusste nicht, ob ich das wollte oder nicht, ich wusste nur, dass ich nichts dagegen würde ausrichten können.«
    Und dann kam Lian , ihr maßloser Körper kunstvoll in einen gold schillernden Umhang gehüllt, ihr langes Haar zu einem Kranz geflochten, die Augenlider waren schwarz geschminkt, das Gesicht weiß gepudert, ein auf gemalter Schnurrbart schwang sich von einer Wange zur anderen.
    Mit winzigen Schritten trippelte sie zu den Hanteln, beugte sich zur kleinsten von ihnen herunter, die aber auch nur zwei Zuschauer gemeinsam hatten herüber heben können, riss sie mit der rechten Hand in die Höhe, warf sie in die Luft, fing sie mit der linken auf, drehte sie ein wenig zwischen zwei Fingern, um sie dann lautlos wieder zu Boden gleiten zu lassen. Das Publikum jubelte, Großvater lächelte entzückt.
    Und so ging es Hantel für Hantel, manche hob Lian mit den Zähnen auf, manche hielt sie sekundenlang zwischen ihren Bauchfalten, manche balancierte sie mit einer solchen Leichtigkeit über dem Kopf, dass es so aussah, als ziehe die Hantel sie nach oben, und Lian verrichtete all das mit einer Gleichgültigkeit, beinah Langeweile, von der Großvater nicht wusste, ob er sie unheimlich oder verrucht finden sollte. »Ich sah ihr die ganze Zeit in die Augen«, sagte er, »Und ich hatte das Gefühl, in einen Brunnen zu schauen, so tief, dass man keinen hineingeworfenen Stein, nicht einmal einen Felsbrocken würde aufprallen

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