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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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und zitterte bereits am ganzen Körper, hat er schließlich den Eimer mit der Eiscreme gegriffen und angefangen, sie damit zu füttern, Löffel für Löffel verschwand ihr Zittern, und als der Eimer leer war, nahm sie ihre Hand und strich Großvater damit über die Wange. Und auch wenn durch die allabendlichen Hanteln jeder Quadratmillimeter ihrer Finger mit einer dicken Schicht Hornhaut bedeckt war, so hatte er doch noch nie etwas vergleichbar Weiches gespürt wie in diesen paar Sekunden.
    Dann zog sie ihre Hand fort, vergrub sie in ihrem Schoß, und Großvater verstand das als Zeichen, Lian nun ihre Ruhe zu lassen, und stand auf, aber sie hielt ihn mit einem kehligen Laut zurück, kaum wahrnehmbar, und doch ließ er Großvater erstarren. Lian sah ihn an, fragend und ängstlich, und Großvater versuchte ein Lächeln, was ihm aber nicht gelingen wollte, und Lians Blick fragte ihn immer weiter, immer flehender, bis Großvater schließlich traurig nickte, nur ein einziges Mal, doch das reichte, ihr Blick leerte sich schlagartig, vollkommen regungslos lag sie da, sodass Großvater sogar fürchtete, nicht einmal die zwei Wochen seien ihr nun vergönnt geblieben, die Luft blieb ihm weg, irgendetwas Spitzes stach in seine Brust, irgendetwas Großes drückte in seinem Hals, irgendetwas Feuchtes lief seine Wange hinunter, blieb kurz am Kinn hängen und tropfte dann zu Boden, und Lian streckte mit einer von ihr ganz und gar nicht zu vermutenden Schnelligkeit die Hand aus, fing die Träne im Fallen mit dem Zeigefinger auf und ließ sie von dort in ihr eigenes Auge fließen.
    Dann sagte sie noch etwas, wieder sehr leise und sehr schnurrend, es klang nach Dank und Verabschiedung, und Großvater verbeugte sich, taumelte in sein Zimmer und verbrachte die verbleibenden Stunden bis zur Vorstellung mit dem Versuch, das soeben Erlebte irgendwie wahrhaben zu können.
    Von der Aufführung bekam er an diesem Abend verständlicherweise noch weniger mit als sonst. Nicht nur er schien sich zu sorgen, ob Lian überhaupt auftreten würde, im Publikum wurde die ganze Zeit nervös geflüstert, und auch die Akrobaten auf der Bühne schienen wenig konzentriert. Doch der Direktor betrat wie gewohnt nach der Seiltanznummer die Bühne, um die »Weltsensation Lian « anzukündigen, er war noch sichtlich geschwächt, ließ sich sonst aber nichts anmerken, wenn Großvater auch glaubte, ihn vor der Erwähnung ihres Namens ein paar Mal schlucken zu sehen.
    Lian trug an diesem Abend einen roten Umhang, das Haar war offen und reichte ihr fast bis zu den Knien, der aufgemalte Schnurrbart zog sich so weit nach oben, dass es aussah, als lächle sie. »Und vielleicht«, sagte Großvater, »sah es auch nicht nur so aus.« Sie stemmte die Hanteln diesmal mit einer atemberaubenden Leichtigkeit, selbst bei der Abschlussnummer mit der Pyramide verzog sie keine Miene, und als sie zum Finale das eine Bein in die Luft streckte, hätte man meinen können, sie müsse sich sehr bemühen, das andere auf dem Boden zu halten. Sie warf mehr Kusshände als sonst, jeder im Publikum bekam eine ab, nur als die Reihe an Großvater war, zögerte sie, trommelte mit den Fingern ein paar Sekunden lang auf ihren bereits geschürzten Lippen, ließ schließlich einen von ihnen in ihren Mund gleiten und zwinkerte meinem Großvater kurz zu. »Das war das letzte Mal in meinem Leben, dass ich errötete«, sagte er, spießte mit der Gabel eine Garnele auf und betrachtete sie lange, bevor er sie zurück in die Schale legte.
    Nach diesem üppigen Abendessen beschlossen wir, zu Fuß zurück zum Hotel zu gehen. Unser Weg führte durch die ausgestorbene Altstadt, den Nachtmarkt, auf dem Großvater noch einen kleinen Snack einnahm ( dousha gao – ein süßer Kuchen aus Erbsen, Datteln und gezuckertem Rindfleisch), vorbei an der Wen-Feng-Pagode , in deren Obergeschoss sich ein Fußpflegesalon befindet, und zahllosen Sexshops bis auf den Hauptplatz. Und dort, umsäumt von den grell beleuchteten Bürohochhäusern, sahen wir auf einmal Hunderte von Menschen tanzen. Keine Musik war zu hören, niemand schien ihnen Einsätze zu geben, und doch bewegten sie sich, gleichmäßig zu Reihen aufgestellt, vollkommen synchron in einer komplizierten Choreografie. Nachdem Großvater und ich dieses Schauspiel ungefähr eine Viertelstunde lang betrachtet hatten, fingen die Tänzer, wiederum ohne ein erkennbares Zeichen, alle gleichzeitig an zu klatschen, jeder umarmte seinen Nebenmann, ein paar Minuten lang wurde

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