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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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jüngere Schwester wäre beleidigt gewesen, das sei mal wieder typisch, und morgen schreibe sie Mathe oder Bio oder Englisch und sie habe zurzeit echt keinen Kopf für Kammerflimmern.
    »Lass uns spazieren gehen«, sagte ich deshalb zu Franziska, und Franziska legte das Kreuzworträtsel beiseite, griff nach ihrer Handtasche, dann sah sie mich an. »Ich kann meine Beine nicht bewegen«, sagte sie und zog zum Beweis mit beiden Händen ihren baumelnden Unterschenkel hoch und ließ ihn wieder zurückfallen.
    Neben dem Kaffeeautomaten lehnte ein zusammengeklappter Rollstuhl, ich hob Franziska hinein. »Hü«, sagte sie, und ich schob sie die verlassenen Gänge entlang, in die Eingangshalle, vorbei an den Schaukästen mit altmodischen Geburtshilfeutensilien, Zangen und Haken und Riemen, deren Funktion man ahnen konnte, ohne es wirklich genauer wissen zu wollen, hinaus in den kleinen Park. Die Kälte war mir auf dem Weg ins Krankenhaus nicht aufgefallen, vereinzelt weiße Flecken in den Beeten, Raureif oder später Schnee. »Schneller«, sagte Franziska während der ersten Runde, »Noch schneller« während der zweiten, in der dritten Runde musste sie sich mit beiden Händen in den Armlehnen festkrallen, jede Unebenheit warf sie in die Höhe, früher oder später würde ich stolpern, daran bestand kein Zweifel, ich würde dabei den Rollstuhl loslassen, aber ich glaubte zu wissen, dass Franziska genau das erhoffte. Der Fahrtwind hatte die Mantelschöße zur Seite geweht, ihre nackten, immer noch übereinandergeschlagenen Beine wippten auf und ab. »Noch schneller«, rief Franziska, ich keuchte so laut, dass ich sie kaum verstehen konnte, die kalte Luft stach in meiner Lunge, meine Augen brannten, ich sah, wie Franziska ihre Hände von den Armlehnen nahm, dann ließ ich los.
    Der fehlende Widerstand ließ mich sofort nach vorn fallen, ich schlug auf dem gefrorenen Boden auf, rollte mich zur Seite ab und kam nach ein paar Umdrehungen auf dem Rücken zum Stillstand, über mir schwankten kahle Zweige. Der Schmerz war angenehm klar, in der Schulter, im Kiefer, im Ellenbogen, im Knie, der Geschmack von Blut, das Knirschen von Schotter oder Zahnsplittern oder beidem. Irgendwer lachte, und ich fragte mich kurz, ob das wohl ich war.
    Der Rollstuhl lag auf die Seite gekippt in einem Beet, ein Rad drehte sich noch. Ein paar Meter daneben hatte Franziska sich bereits aufgesetzt, der Regenmantel war zerrissen, Dreck und Blut am Kinn, am Knie. Sie strahlte mich an. »Komm, wir besuchen ihn«, sagte sie, und ich musste kurz überlegen, wen sie damit wohl meinte. Noch schwankend stand Franziska auf und hielt mir ihre Hand hin. »Du kannst ja wieder laufen«, sagte ich. »Ja«, sagte sie, »ein verdammtes Wunder.«
    Die Notaufnahmeschwester sah uns nur kurz skeptisch an, stellte aber keine Fragen. »Er schläft jetzt«, sagte sie, und erst an meiner Erleichterung merkte ich, wie wenig ich auf alles andere vorbereitet gewesen wäre. Auf der Station war niemand zu sehen, wir warteten ein paar Minuten, dann begannen wir, Tür für Tür nach dem richtigen Zimmer abzusuchen. Im vierten lag er, regungslos auf dem Rücken, Schläuche im Arm und in der Nase, das war zu erwarten gewesen, eine Zeit lang betrachtete ich die beruhigend gleichbleibenden Ziffern auf dem EKG, während Franziska hinter mir die Tür schloss.
    Wir wagten uns nicht nahe heran, ein Streifen Licht fiel durch den Spalt in der Gardine auf sein Gesicht, das keinerlei Ausdruck zeigte, nicht einmal Erschöpfung. Zum ersten Mal fand ich, er sehe alt aus, noch viel älter, als er tatsächlich war, so als gehöre er hinter Glas.
    Das zweite Bett im Krankenzimmer war nicht belegt, Franziska und ich setzten uns auf die straff gespannte Überdecke, unsere Beine berührten kaum den Boden, wie artige Kinder schauten wir auf meinen Großvater, als habe er uns hierher zitiert, und sagten kein Wort. Die aufgeschürften Stellen an meinen Knien und Ellenbogen begannen zu pochen, auch auf Franziskas Beinen war das Blut fast getrocknet, ein kleines Rinnsal verendete irgendwo auf der Mitte ihres Unterschenkels, mit etwas Spucke entfernte sie es, befühlte dann ihre übrigen Wunden, am Ballen der linken Hand, am rechten Oberarm, an der Schläfe, dann drehte sie sich zu mir um, ihr Blick sprang in meinem Gesicht umher, blieb am Kinn hängen, mit dem Daumen berührte sie es vorsichtig, und sofort ließ mich ein stechender Schmerz zusammenzucken, anscheinend war auch dort meine Haut aufgerissen, ohne

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