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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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sagte: »Ich war derjenige, der ihr mitteilen musste, dass sie nicht mehr lange zu leben habe.«
    Tagsüber sei Lian stets vollkommen abgeschirmt gewesen, vor dem Durchgang zum Hinterhof standen zwei grimmig aussehende Wächter, die auf Großvaters Flehen, der Künstlerin doch bitte seine Aufwartung machen zu dürfen, meist gar nicht, im Höchstfall mit einem Lachen reagierten. Großvater hat aber, wie er erzählte, trotzdem immer vor dem Durchgang ausgeharrt, in der Hoffnung, einen kurzen Blick auf den massigen Körper seiner Begierde werfen zu können oder zumindest einmal ihre Stimme zu hören, aber alles, was zu ihm durchdrang, war ein Schmatzen, war manchmal ein Seufzen und hin und wieder ein langgezogener hoher Ton, eine Art Fiepen, »wie von einem sehr kleinen Tier«.
    Abend für Abend saß er mit hämmerndem Herzen im Publikum und bestaunte die Kraft und Schönheit Lians , Tag für Tag spähte und lauschte er an den standfesten Wächtern vorbei, und mit Sorge vernahm er, wie das Schmatzen im Laufe dieser Tage immer leiser wurde und das Fiepen sich dafür immer länger hinzog, mitunter über Stunden, und irgendwann schauten auch die Wächter einander besorgt an. Ob mit Lian alles in Ordnung sei, fragte Großvater, doch sie verstanden ihn nicht, und selbst wenn, hätten sie ihm wohl auch nichts mitteilen können, stur schauten sie durch ihn hindurch, auch als er anfing, sie zu bedrängen, auch als er schrie, dass Lian sicher krank sei und man ihn zu ihr durchlassen müsse, auch als er mit den Fäusten auf die Wächter eintrommelte. Es war aussichtslos, und nach einer Woche, als sich das Fiepen mehr und mehr in ein Wimmern verwandelte, verließ Großvater seinen Posten vor dem Durchgang zum Hof, eilte in die Stadt, besorgte einen Arzt, weckte den Direktor aus seinem Mittagsschlaf und nötigte ihn mit Worten, Gesten, Weinen, Schreien und Drohen, Lian vom Arzt untersuchen zu lassen.
    Großvater selbst musste weiter außerhalb des Hofes warten, eine halbe Stunde lief er unruhig auf und ab, dann sah er schließlich zwischen den Wächtern hindurch, wie der Arzt den Direktor und einen der Diener, der offenbar als Übersetzer aushalf, in eine Ecke des Hofes führte, wie er ernsthaft und bestimmt auf die beiden einredete, »Verstehen Sie?«, hörte er den Arzt immer wieder fragen, er hörte »Herz«, er hörte »Leber«, er hörte »Nieren«, er hörte »im Grunde alles«, er hörte »leider«, er hörte »zwei Wochen«, er hörte »höchstens«. Er sah, wie der Direktor fassungslos den Kopf schüttelte, wie er nach Luft rang, wie er den Arzt beschimpfte, wie er schließlich weinend zusammenbrach und von den beiden Wächtern zurück zu seinem Wagen getragen werden musste. Diesen Moment nutzte Großvater sofort und betrat den Hof. Lian lag auf ihrem Diwan, die Augen geschlossen, ihre Brüste, die wie zwei Plattfische über den Bauch lappten , bebten auf und ab, sonst ruhte der Körper. Die Diener, von denen sie sonst gefüttert, massiert und bewedelt worden war, hatten sich allesamt erschrocken zurückgezogen. Die »Widersprüchlichkeit seiner Empfindungen«, sagte Großvater, während der Kellner neue Schüsseln auftrug, habe ihm in diesem Moment den Atem verschlagen. Die fast schmerzhafte Freude, Lian endlich nahe sein zu dürfen, stritt sich in ihm mit der Verzweiflung über das soeben Gehörte. »Ich blickte auf eine Todgeweihte«, sagte Großvater, »und ich konnte nicht anders, als zu lächeln.« Und dann habe Lian die Augen geöffnet, und wieder hatte Großvater das Gefühl, in einen Brunnen zu schauen, noch tiefer als der, den er abends auf der Bühne gesehen hatte. Meilenweit schien sich der Schacht zu erstrecken, und ganz am Ende leuchtete dort etwas, eine Art rotes Glimmen sei es gewesen, und je länger er es fixierte, umso heller wurde es, und dann, mit einem Mal, sei es nach vorne geschossen, den ganzen Brunnenschacht entlang, geradewegs aus den Pupillen heraus und direkt auf Großvater zu. Fast eine Minute, erzählte er, sei er geblendet gewesen, und als er seine Sehkraft dann endlich wiedererlangte, habe Lian ihn unverwandt angestarrt und mit leiser, aber fester Stimme etwas zu ihm gesagt, was er natürlich nicht verstand, so dass er nur entschuldigend mit den Schultern zucken konnte, und Lian hat den gleichen Satz immer und immer wiederholt, laut und ungeduldig ist sie dabei geworden, und Großvater hat mit den Händen gerungen, weil er so gerne verstehen wollte, und aus purer Verzweiflung, Lian schwitzte

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