Der Kalligraph Des Bischofs.
ahnt dieser Mann nicht, wie begabt er ist? Es
muß schwer sein, eine Vergangenheit als Dieb hinter sich zu lassen. Hätte ich dem Bischof offenbaren sollen, wen er sich hier
an den Hof geholt hat?
Vor seinen Augen öffnete sich eine Straße in Turin. Im ersten Stockwerk stand dieser junge Mann, den einen Fuß auf dem einen
Fenstersims, den anderen Fuß auf dem anderen. Zerrissene Kleider, ein ausgemergelter Körper. Und dann diese gelben Augen,
die ihm aufmerksam und kühl entgegensahen. Hatte er wirklich erwartet, daß Germunt |186| sich so schnell verändern würde?
Vielleicht kehrt er nie nach Turin zurück. Vielleicht ist er schon tot.
Urplötzlich ergriff den Schreiber Furcht. Er sah im Licht der kleinen Flamme seine Finger zittern. Das Herz schlug ihm gegen
die Rippen wie ein Fensterladen, der im Sturm auf- und zuklappt. Mit einem hastigen Atemstoß löschte er das Talglicht. Sprang
auf. Eilte über den Hof. Er ging auf Zehenspitzen durch die Flure des Palastes, bis er vor dem Schlafraum des Bischofs stand.
Sein Ohr am Türholz, beruhigte er sich ein wenig. Da waren gleichmäßige Atemzüge, kein Röcheln oder unterdrücktes Hilferufen.
Biterolf spähte in den dunklen Flur. Langsam ließ er sich zum Boden hinabsinken.
Wenn sich jemand anschleicht, kann ich wenigstens noch um Hilfe rufen. Dann ist der Bischof vorbereitet.
Es mußte Morgen sein, Sonnenlicht erhellte die Wände. Die Tür zum Schlafgemach stand offen. Biterolf zappelte in die Höhe.
Mit einem Schritt war er im bischöflichen Schlafraum. Zu seiner Beruhigung sah der Schreiber das leere Strohlager: kein Blut.
Dann hörte er Godeochs Stimme vom Hof.
»Dieses Mal seid Ihr zu weit gegangen, Claudius.«
Biterolf stürzte zu den Fensterbögen. In der Mitte des Platzes standen sich Claudius und der Graf gegenüber. Die Dienstleute
des Bischofs drückten sich ringsum an die Mauern, auf manchen Gesichtern ein hämischer Zug, andere mit bestürztem Blick.
»Seht ihn euch an«, sagte Godeoch. »Da steht er, euer armer Bischof. Schweigsam, weiß nicht recht, wie er sich entschuldigen
soll.«
Claudius hielt die Arme vor seiner Brust verschränkt und sah den Spötter an. »Ich entschuldige mich nicht, wenn ich auf einen
Wurm getreten bin.«
Der Graf keuchte. Auffordernd sah er in die Zuschauerreihen. »Habt ihr das gehört? Habt ihr gehört, wie er mich |187| genannt hat?« Er wirbelte herum und brüllte dem Bischof entgegen: »Ihr wagt es? Zu meinen Vorfahren gehören römische Sena
–«
»Das habt Ihr mir bereits mitgeteilt.«
»Und wer seid Ihr? Ein Günstling, der dem Kaiser Honig ums Maul geschmiert hat. Ich habe den Boden Italiens nicht ein einziges
Mal verlassen, aber Ihr, Ihr seid ein Fremder, einer jener schwächlichen Franken, die aus der Tücke ihrer Vorfahren Gewinn
schlagen.«
Claudius machte einen Schritt auf den Grafen zu. Verwundert wich dieser zurück. »Mein Vater gehört zu einem westgotischen
Adelsgeschlecht, das einst über das gesamte Land westlich der Pyrenäen herrschte, bis es uns die Mauren stahlen. Das schmale
Italien, das Ihr bewohnt, soll mich beeindrucken? Ihr seid doch nicht mehr als ein Dorfmeier!«
Es zischte, etwas blitzte in der Sonne, dann hielt der Graf die Spitze eines Schwertes auf Claudius gerichtet. »Ihr werdet
Euch fügen!«
Biterolf stockte der Atem. Der Bischof war unbewaffnet. Die Dienstleute standen reglos und gafften.
»Da könnt Ihr warten bis zum Sankt Nimmerleins-Tag.«
Ich muß etwas unternehmen. Ich mache mich mitschuldig, wenn ich ihm nicht helfe.
In Biterolfs Kopf rauschten die Gedanken, sprangen, zerrten und glitten wild durcheinander.
Mit den Worten: »Vater, vergib mir« hastete Biterolf zurück und öffnete eine Truhe. Als er den Griff des verzierten Schwertes
umfaßte, hörte er von draußen ein angstvolles Murmeln. Es war höchste Zeit. Er sprang zurück zum Fensterbogen.
Godeoch lief mit langsamen Schritten, die Schwertspitze an der Kehle des Bischofs, über den Hof. Claudius wich zurück. Schweiß
glänzte auf seiner Stirn.
»Ihr habt mich beleidigt«, fauchte der Graf. »Ich habe ein Recht, Euch zu töten.«
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Er steht mit dem Rücken zu mir,
schoß es Biterolf durch den Kopf.
Ich muß ihm irgendwie sagen, daß ich sein Schwert habe.
Er entsann sich des summenden Geräuschs, das die Klinge von sich gegeben hatte, als der Bischof sie damals durch die Luft
fahren ließ. Mit feuchten Händen umklammerte er den Schwertknauf. Es fiel
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