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Der Kalligraph Des Bischofs.

Der Kalligraph Des Bischofs.

Titel: Der Kalligraph Des Bischofs. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Aelfnoths Vorlagen zu unterscheiden waren. Manchmal fragte er sich, ob es gerade dies war, was seinen
     Lehrer so erzürnte.
    Wenn Aelfnoth freundlich gestimmt war, belehrte er Germunt, aus einem schier unendlichen Wissensvorrat schöpfend. Ihm blitzte
     dabei der Schalk aus den Augen, vielleicht, weil er es genoß zu belehren, vielleicht, weil er es selbst nicht wirklich ernst
     nahm.
    |204| »Der heilige Martin«, erklärte der alte Mönch einmal mit übertriebener Feierlichkeit, »ist der am höchsten zu verehrende Heilige
     in ganz Gallien. Er errichtete Kirchen in Langeais, Saunay, Tournon, Amboise, Ciran und Candes.«
    »Und Candes«, wiederholte Germunt eifrig.
    »Außerdem gründete er das erste Kloster in Frankreich. Wo war das?«
    »Ich weiß es nicht, verehrter Lehrmeister.«
    »Hundert Stockhiebe!«
    »Bitte, sagt es mir!«
    »Ligugi.«
    »Er gründete das erste Kloster in Ligugi«, sagte Germunt auf.
    »Fein. Die Strafe sei Euch erlassen.«
    »War dieser Martin nicht auch ein gewöhnlicher Mensch?«
    Der Spott wich aus Aelfnoths Gesicht. »Natürlich. Er war römischer Soldat. Es heißt, daß er freiwillig die Waffen abgegeben
     hat, um Christ zu werden. Sagt es nicht weiter, sonst werde ich wirklich noch aus dem Kloster geworfen – ich bin nicht sicher,
     ob all die Geschichten stimmen, die man sich über ihn erzählt. Er soll einen Leprakranken durch einen Kuß geheilt haben, selbst
     Tote hat er auferweckt, sagt man.«
    »Und Ihr glaubt das nicht?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich bin mir nur nicht so sicher. Gott ist alles möglich.«
     
    Obwohl sich Germunt die meiste Zeit in Aelfnoths Kammer aufhielt und auch keinen der anderen Mönche wirklich kennenlernte,
     blieb ihm doch das Leben des Klosters nicht völlig verborgen. Mitunter verweilte er einige Zeit länger auf dem Hof, als es
     allein für das Erledigen der Notdurft nötig gewesen wäre, und betrachtete die Mönche in ihren schwarzen Kutten, die in den
     Gärten Unkraut rupften, oder lauschte den Gesangsübungen der jungen Klosterschüler.
    |205| Jede Nacht schreckte er zwei Stunden vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf, geweckt von einem eisernen Scheppern. Einmal, als er
     von einer riesigen Frau träumte, die mit einem bronzenen Klöppel gegen einen Wasserkessel schlug, und mit rasendem Atem erwachte,
     schlich er sich zur Tür. Füße schlurften auf dem Flur. Germunt öffnete die Tür für einen Spalt und konnte zwei Schüler sehen,
     der eine mit der Stupsnase eines Kindes, der andere schon größer gewachsen und mit den langen, schlaksigen Gliedern eines
     Halbwüchsigen, der noch nicht gelernt hat, sie zu handhaben.
    »Du mußt mir helfen«, flüsterte der Jüngere. »Ich kann diese Aufgabe nicht lösen! Wieviel Spuren hinterläßt ein Ochse, der
     den ganzen Tag geackert hat?«
    Sein Gegenüber grinste breit. »Mann, die ist doch einfach! Vom Ochsen werden keine Spuren übrigbleiben, weil hinter ihm der
     Pflug folgt, der die ganzen Spuren zuackert.«
    »Ach. Stimmt.«
    »Los, wir müssen. Wir sind die letzten. Ich habe keine Lust darauf, schon wieder die Rute auf dem Rücken zu spüren.«
    »Nur noch eine Frage, bitte! Ich komme mit dieser Arithmetik nicht zurecht. Warte, ich hab’s mir doch gemerkt, wie ging das
     heute? Ein Mensch sagte auf einem Spaziergang zu ihm entgegenkommenden Personen: Ich wünsche, ihr wäret doppelt soviel, als
     ihr seid, und dazu noch die Hälfte der Hälfte dieser Zahl … und davon … und davon
noch
einmal die Hälfte, dann wären es zusammen mit mir genau hundert. Wieviel Personen kamen ihm entgegen? Das ist doch schwer
     wie ein fetter Ochse.«
    »Ich glaub, ich erinnere mich an die Aufgabe. Waren das sechsunddreißig?«
    Ein ärgerlicher Ruf ertönte am anderen Ende des Flurs. Die Schüler zuckten zusammen. »Was schwatzt ihr hier? Die Vigilmesse
     beginnt! Und war das etwa Romanisch, was ihr da geflüstert habt? Latein, Latein, Latein!«
    |206| Die Schüler verließen ihren Winkel und gingen mit hängenden Köpfen in Richtung Hof. Vorsichtig schlich ihnen Germunt nach.
     Bevor sie das Haus verließen, hörte er den Jüngeren noch einmal raunen: »Ein Mensch wollte einen Wolf, eine Ziege und eine
     Stiege Kohlköpfe über den Fluß –« Aber der andere stieß ihm so hart den Ellenbogen in die Seite, daß er verstummte.
    Auf den Hof folgen wollte Germunt den Schülern nicht, um nicht entdeckt zu werden. Er blieb in der Tür stehen, beobachtete,
     wie sie am Kircheneingang unsanft am Arm gepackt

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