Der Kalligraph Des Bischofs.
und hineingeschoben wurden. Dann sangen viele müde Kehlen: »Herr, öffne meine
Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde«, erneut, und ein drittes Mal. Eine einzelne Stimme sang einen Psalm: »Ach Herr,
wie sind meiner Feinde soviel, und erheben sich so viele gegen mich …«, und die Menge antwortete: »Ehre sei dem Vater.«
Ein Mensch wollte einen Wolf, eine Ziege und eine Stiege Kohlköpfe über den Fluß setzen.
Solche Übungen hatte Germunt von Biterolf häufig gehört. Das trotzige Gesicht des Notars fehlte ihm, die braunen Augen, die
grüne Ringe in sich trugen und so ermattet blicken konnten oder so begeistert glänzten. Müde schlich er zurück in Aelfnoths
Kammer. Erst als er die Decke über seinen Körper gezogen hatte, bemerkte er, wie kalt seine Füße auf dem nackten Boden geworden
waren.
Einen Wolf, eine Ziege und eine Stiege Kohlköpfe …
Einen Gedanken gab es, den wagte Germunt nie auszusprechen. Er hatte inzwischen jedes Abscheugefühl überwunden und konnte
den alten Mönch behandeln wie einen Freund. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, daß sich mit jedem Tag Aelfnoths Haut
stärker gelb färbte. Immer enger spannte sie sich um das Knochengerüst des alten Mannes, so daß Germunt bald den Eindruck
hatte, er rede mit einem Toten.
Wirklich besorgt war Germunt erst, als er eines Morgens |207| aufstand und jeder Glanz aus Aelfnoths Augen gewichen war. Der Alte sprach wie eh und je, vielleicht etwas ruhiger, aber das
lebendige Leuchten seiner Augen fehlte.
Er rang lange mit sich, bis er eine Frage wagte: »Geht es Euch gut?«
»Es ging mir nie besser! Ich habe einen begabten Schüler, den ich herumscheuchen kann, wie man mich damals herumscheuchte.
Den ganzen Tag ist jemand da, so daß meine Gebete kürzer ausfallen als je zuvor – der himmlische Vater vergebe mir!«
Er schaut mich nicht an,
dachte Germunt.
Es ist nicht die Wahrheit. Ob er sie selbst nicht sehen möchte?
»Wir haben zu essen, ich habe eine Aufgabe. Warum sollte es mir nicht gutgehen? Ihr möchtet nur ablenken von Eurer Arbeit!«
Drei Tage ging es so. Dann lag der Alte am Morgen da und stand nicht auf. Zuerst wartete Germunt geduldig. Vielleicht betete
Aelfnoth oder dachte nach. Als er auch nach längerer Zeit nichts sagte, berührte ihn Germunt an der Schulter. »Mein Lehrmeister,
die Sonne ist aufgegangen.« Er sprach sanft und leise.
Sichtlich mit großer Anstrengung hob Aelfnoth die Augenlider. Sein Flüstern ließ Germunt zurückschrecken, weil es fremd klang,
wie die Stimme des Todes: »Nicht für mich, junger Freund. Aber ich bin froh …« Er unterbrach sich und schloß die Augen. Nach
einigen Momenten sah der alte Mönch wieder zur Zimmerdecke und flüsterte weiter: »Ich bin froh, daß ich Euch habe. Hatte immer
große Angst, allein zu sterben.«
Germunt streichelte den Arm des alten Mannes. »Ihr seid nicht allein.« Beinahe hätte er laut »Nein!« gerufen, als Aelfnoth
mit großem Kraftaufwand seinen Kopf zu ihm drehte. Germunt hatte das Gefühl, jede Bewegung beschleunige den Abgang dieses
Menschen.
Erstaunlich fest lag Aelfnoths Blick auf Germunts Gesicht. |208| »Wir haben nie über meinen Lohn gesprochen.« Die Lippen des Alten brachten zitternd ein Lächeln zustande. »Seid Ihr bereit,
mir einen großen Dienst zu erweisen?«
Germunt schluckte. »Für Euch, Aelfnoth, ja.«
Die trüben Augen des Mönches wurden feucht. »Ich möchte noch ein letztes Mal die Kapelle sehen.«
Lange Zeit ruhten die Augen der beiden Männer ineinander.
Es ist wie ein stiller Abschied,
ging es Germunt durch den Kopf.
Wir wissen beide, daß er den Weg zur Kapelle nicht überleben wird.
Dann schob er seine Arme unter den Körper des Alten. Als er ihn anhob, erschrak er, wie leicht der Sterbende war. Germunts
Fuß schob die Tür auf. Er humpelte den langen Flur entlang, in den ihn der Allmächtige geführt hatte.
Während die beiden den Platz zur Kirche überquerten, blieben überall Mönche stehen und schauten ihnen hinterher. Germunt spürte,
wie ihm Tränen über das Gesicht liefen. Einer der Mönche hastete an ihm vorbei, um die Kirchentür zu öffnen. Würde ruhte auf
allen Gesichtern.
Zu guter Letzt noch einmal Ehrfurcht für diesen Mann.
Der Raum der Kirche schien höher zu sein als der Himmel, unter dem sie draußen gelaufen waren. Germunt hinkte bis vor den
Altar und legte den alten Mann dort nieder. Es kümmerte ihn nicht, daß es Laien verboten war, diesen
Weitere Kostenlose Bücher