Der Kalligraph Des Bischofs.
stürzten alle Gedanken durcheinander, und als sie sie fassen wollte, um Ordnung zu schaffen, war nicht einer
mehr zu greifen.
»Ihr seid enttäuscht?«
»Nein, ich … Ich weiß nicht. Ist es nicht unehrenhaft, Suppo zu verspotten, wenn er sich nicht wehren kann?«
|220| »Sind denn dann auch die Jäger unehrenhaft, die aus der Ferne auf den Bären schießen? Wir fahrenden Spielleute sind nicht
für ein Handgemenge gerüstet. Seht mich eher als einen Bogenschützen, der aus sicherem Abstand kämpft.«
Stilla schwieg. Unglaublich, daß es jemand wagen konnte, die hohen Herren zu verachten, und ungeschoren davonkam. Es war,
als galten die Gesetze dieser Welt nicht für den Spielmann.
»Ich bin soweit. Bevor wir beginnen – ich habe das Silberstück auf den Tisch gelegt. Ihr mögt es behalten. Schaut einfach,
ob Euch mein Lied gefällt, und wenn es Euch angerührt hat, dann darf ich Euch küssen. Einverstanden?«
Zur Sache ist er schnell.
Stilla schüttelte ungläubig den Kopf.
Ich kann ja hinterher sagen, es hat mir nicht gefallen.
»Spielmann, Ihr seid mutig.« Sie lächelte.
»Oh, ich bin es gewohnt, meinen Hals zu wagen. Frage mich nur, wie ich Euren gewinnen kann. Für einen Kuß, versteht sich,
nichts von Gefahr. Was möchtet Ihr hören?«
Einer plötzlichen Regung folgend, sagte Stilla: »Etwas Trauriges.«
Es klang, als pustete sich der Spielmann eine Strähne aus der Stirn. »Seid Ihr sicher? Ich kenne so wunderschöne Lieder von
der Liebe. Das würde viel besser zu Euch passen.«
»Nein, bitte singt mir das traurigste Lied, das Ihr kennt.«
»Ich kenne da eins, aber …« Es war eine ganze Weile still. »Wenn die vier Rothaarigen erfahren, daß ich es gesungen habe,
lassen sie mich ins Gras beißen. Nur für Euch singe ich es, ja? Ihr dürft Euch geehrt fühlen.«
»Habt Dank.« Gnädig erhob Stilla ihre Hand, und der Spielmann küßte sie abermals.
»Eine Geschichte, die ich vor kurzem nördlich der Alpen gehört habe. Sie ist das Traurigste, das ich kenne.«
Stilla flog mit den leisen Tönen der Laute ins Frankenreich. Sie durchstreifte die grünen Hügel auf dem Land des Grafen Udalbert,
staunte über die Schönheit des Kammermädchens |221| Adia. Wenig wunderte es sie, daß der kinderlose Graf sie zum Kebsweib nahm, als er merkte, daß seine Frau unfruchtbar war.
Adia gebar ihm einen jungen Erben, ganz wie er es sich gewünscht hatte.
Zwischen den gezupften Melodien des Spielmanns tollte dieser Junge umher, freute sich am Glück seines Lebens. Die Gräflichen
erboten ihm Ehre, wußten in ihm ihren zukünftigen Herrn. – Bis die Gräfin unerwartet ebenfalls einen Sohn zur Welt brachte.
Adia und ihr Kind wurden verstoßen. Sie lebten von nun an in einer Hütte am Rande des Dorfes. Der Vater wollte den Jungen
kaum noch sehen, und das Leben wurde schwer für Mutter und Kind.
»Das ist sehr traurig«, seufzte Stilla.
»Wartet ab, es ist erst der Anfang«, raunte der Spielmann. Er schlug seine Saiten an.
»Im achten Jahr des Jünglings gab
Der Graf, bedrängt von seiner Frau,
Die schöne Adia hinweg
Zum Preis für eine einz’ge Sau.
Von da an wart der junge Mann
Noch mehr gequält und oft bedrängt,
Zu huldigen dem rechten Sohn,
Dem nun der Graf sein Herz geschenkt.
Die Gräfin trieb ihm Demut ein,
Bis er im Haß sie mordete …«
Stilla sprang auf. »Er hat die Gräfin umgebracht? Seine Stiefmutter getötet?«
»So erzählt man es sich, ja.«
»Und der Graf? Hat er ihn zur Strafe vierteilen lassen?« Ihre Hände zitterten.
»Der Jüngling konnte fliehen. Er lebte eine Weile vom Diebstahl, aber die Bluträcher, vier Brüder der Gräfin, die aus einer
edlen Familie stammte, verfolgten ihn bis in die |222| Berge, wo er starb. Das war nicht weit von hier, es soll der Cenispaß gewesen sein, wie mir ein Jäger erzählte.«
Stilla fror das Gesicht. »Wie lange ist das her?«
»Vielleicht drei Jahre. Das Lied hat Euch gerührt, nicht wahr? Ihr habt doch unsere Vereinbarung nicht vergessen?«
Stilla schlich zur Feuerglut und streckte ihre Hände aus.
Erst einmal die Finger wärmen,
sagte sie sich in Gedanken.
Erst einmal die Finger wärmen.
Da war ein Gedanke in ihr, den sie nicht zulassen wollte, der sich aber immer wieder aufdrängte wie ein hartnäckiger Dornenzweig,
den man vergebens zurückzubiegen versucht. »Wißt Ihr seinen Namen?«
»Ich singe das Lied bisher ohne Namen, aber ich werde mich wohl bald entscheiden und dem jungen Mann
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