Der kalte Hauch der Angst
Koffer. Der Stapel mit Kartons wird schräg vom Schatten der Tür verdeckt. Die unteren Kartons sind teilweise hell, die oberen dunkel. 120 Prozent. 140 Prozent. Frantz versucht die Aufschrift zu lesen, die mit schwarzem Filzstift am Rand eines Kartons angebracht ist. Er stellt das Bild schärfer, vertieft die Kontraste, vergröÃert es noch mehr. Er kann ein paar Buchstaben erahnen. In der ersten Zeile ein A, ein V und am Ende ein S. In der Zeile darunter ein Wort, das mit D beginnt, dann ein C, ein U, und ein weiteres Wort »AUV â¦Â«, also »Auverney«. In der letzten Zeile steht eindeutig: »H bis L«. Dieser Karton steht ganz unten; der Karton darüber wird vom Schatten geteilt, unten ist er hell, der obere Teil verschmilzt mit der Dunkelheit. Doch das Wenige, das er sieht, lässt ihn abrupt innehalten. Frantz sitzt eine ganze Weile lang sprachlos vor diesem Foto und wird sich der Bedeutung bewusst, diedas Ganze für ihn bekommt: Vor sich sieht er die Kartons mit dem Archiv von Frau Doktor Auverney.
In einem dieser Kartons liegt die Krankenakte seiner Mutter.
Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Sie ist allein. Gleich steht sie auf, läuft zum Schrank, stellt sich auf die Zehenspitzen, schnappt ihren Schlüssel und schlieÃt die Tür auf, alle Muskeln sind angespannt. Sie hört Frantzâ Schritte in dem hellhörigen Treppenhaus. Sie läuft zum Fenster, aber sie sieht ihn nicht aus dem Haus kommen. Vielleicht hat er auch nur den Müll runtergebracht, was aber wenig wahrscheinlich ist, denn er trägt nur ein kurzärmeliges Hemd, das heiÃt, er ist irgendwo im Haus. Schnell schlüpft sie in ihre flachen Schuhe, macht die Tür leise zu und geht die Treppe hinunter. In diesem Teil des Hauses ist um diese Zeit kein Fernseher mehr zu hören. Sophie atmet tief durch, im Erdgeschoss bleibt sie stehen, dann geht sie weiter â¦Â Es gibt keinen anderen Ausgang. Langsam öffnet sie die Tür und hofft, dass sie nicht quietscht. Es ist nicht ganz dunkel, unten im Treppenhaus bemerkt sie ganz hinten Licht. Sie lauscht, aber sie hört nur ihr Herz und das Blut in ihren Schläfen pochen. Langsam geht sie hinunter. Unten folgt sie dem Lichtschein nach rechts. Dort sind die Kellerräume. Hinten links ist eine Tür angelehnt. Sie muss nicht weitergehen, das wäre auch zu gefährlich. Frantz hat drei Schlüssel an seinem Schlüsselbund. Motorrad, Haus, und jetzt weià sie auch, wozu der dritte dient. Leise geht Sophie wieder hinauf. Sie muss eine Gelegenheit abwarten.
Nach dem Geschmack zu urteilen, der eindeutig bitterer ist als sonst, muss es eine hohe Dosis gewesen sein. Sophie weiÃnun, wie sie es machen muss. Neben ihr Bett legt sie einen Knäuel zerknüllte Papiertaschentücher, in die sie sich übergeben kann und die sie jedes Mal erneuert, wenn sie auf die Toilette geht. Doch immer funktioniert das nicht. Vorgestern blieb Frantz zu lange bei ihr. Er ging keine Sekunde weg. Sie spürte, wie sich die Flüssigkeit einen schmerzhaften Weg durch ihren Hals bahnte. Bevor sie husten musste â was sie nie getan hat und was ihn auch sicherlich beunruhigt hätte  â , hat sie beschlossen zu schlucken, während sie so tat, als würde sie sich in unruhigem Schlaf wälzen. Kurz darauf bekam sie mit, wie ihr Körper schwer und ihre Muskeln schlapp wurden. Das erinnerte sie an die letzten Minuten vor der Operation, wenn der Anästhesist einen bittet zu zählen.
Dieses Mal ist es schiefgegangen, aber ihre Methode ist ausgefeilt, und wenn alle Bedingungen stimmen, läuft alles glatt. Sie weiÃ, wie sie die Flüssigkeit im Mund behalten und ihren Speichel runterschlucken muss. Wenn Frantz dann in den folgenden Minuten weggeht, wirft sie sich schnell auf die Seite, packt das Taschentuchknäuel und spuckt aus. Doch wenn sie das Medikament zu lange im Mund hat, dringt es über die Schleimhäute in den Körper und vermischt sich mit ihrem Speichel â¦Â Und wenn sie dann schlucken muss, hat sie noch eine kleine Chance, dass sie es wieder nach oben würgen kann, aber das muss in den ersten Sekunden geschehen. Dieses Mal ist noch einmal alles gutgegangen. Wenige Minuten nach dem Ausspucken atmet sie, als würde sie tief schlafen, und wenn Frantz sich über sie beugt, sie streichelt und zu ihr spricht, wirft sie den Kopf von links nach rechts, als wolle sie seinen Worten
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