Der kalte Hauch der Angst
rennt. Er muss schnell nach Hause. Er kann sich nicht in Sicherheit wiegen. Und wenn sie wieder abhaut? Bis er zu Hause ist, muss er sie jede Viertelstunde anrufen. Er ist noch immer etwas beunruhigt, aber die Erleichterung herrscht vor.
Frantz rennt zu seinem Wagen, und er spürt eine innere Befreiung. Als er losfährt, beginnt er zu weinen wie ein Kind.
SOPHIE UND FRANTZ
Sophie sitzt am Küchentisch, als er die Tür öffnet. Sie macht den Eindruck, als würde sie schon Jahrhunderte da sitzen, ohne sich von der Stelle bewegt zu haben. Abgesehen von dem überquellenden Aschenbecher, ist der Tisch leer; Sophie hat die Hände verschränkt und auf das Wachstuch gelegt. Sie trägt Kleider, die Frantz nicht an ihr kennt, zerknittert, nicht zusammenpassend, man könnte meinen, sie sind aus einem Secondhandladen. Sophies Haare sind fettig, ihre Augen rot. Sie ist schrecklich mager. Sie dreht sich langsam zu ihm, als würde sie diese Bewegung übermäÃige Anstrengung kosten. Er geht auf sie zu. Sie will aufstehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie neigt nur den Kopf und sagt: »Frantz.«
Er drückt sie an sich. Sie riecht stark nach Rauch. Er fragt: »Hast du wenigstens etwas gegessen?«
Sie klammert sich an ihn und schüttelt verneinend den Kopf. Er hatte sich vorgenommen, sie jetzt nichts zu fragen, aber er kann nicht anders: »Wo warst du?«
Sophie wackelt mit dem Kopf, dann löst sie sich mit verlorenem Blick von ihm.
»Ich weià nicht«, bringt sie hervor. »Ich bin Autostopp gefahren â¦Â«
»Ist dir auch nichts passiert?«
Sie schüttelt den Kopf.
Frantz bleibt lange stehen und hält sie im Arm. Sie hat aufgehört zu weinen, kuschelt sich in seine Arme wie ein kleines, verängstigtes Tier. Sie hängt an ihm, aber sie ist dennoch unglaublich leicht. Sie ist wirklich mager â¦Â Natürlich fragt er sich, wo sie gewesen ist, was sie während dieser ganzen Zeit gemacht hat. Sie wird es ihm schon sagen, für ihn birgt Sophies Leben keinerlei Geheimnis mehr. Doch vorherrschend ist in diesem Moment des Schweigens, in dem sie sich wiederfinden, dass er sieht, welche Angst sie hat.
Nachdem er das Erbe seines Vaters angetreten hatte, war Frantz überzeugt gewesen, dass er sich ganz Frau Doktor Catherine Auverney widmen kann; daher empfand er es als Verrat, als er einige Monate zuvor von ihrem Tod erfahren hatte. Das Leben zeigte sich vollkommen illoyal. Doch heute durchflutet etwas jede Faser seines Seins: dieselbe Erleichterung wie an jenem Tag, als er Sophie entdeckt hat und ihm klar geworden ist, dass sie Frau Doktor ersetzen würde. An ihrer Stelle sterben würde. Diesen Schatz hätte er in diesen drei Tagen fast verloren. Er drückt sie an sich und atmet den Geruch ihres Haars ein. Sie löst sich ein wenig von ihm, schaut ihn an. Geschwollene Lider, schmutziges Gesicht. Aber sie ist schön. Unleugbar. Er beugt sich vor, und die Tatsache ihrer Schönheit steht ihm plötzlich in all ihrer Klarheit und Wahrheit vor Augen: Er liebt sie. Aber das schockiert ihn nicht so sehr, er liebt sie schon lange, nein, was ihn so bewegt, ist, dass er sie liebt, weil er sie mit Fürsorge überschüttet, bearbeitet, führt, lenkt, formt. Sophie sieht nun genauso aus wie Sarah. Am Ende ihres Lebens hatte Sarah auch hohle Wangen, graue Lippen, leere Augen, diese knochigen Schultern, diese ätherische Magerkeit. Wie Sophie heute, so hat auch Sarah ihn mit Liebe angeblickt, als sei er der einzige Ausweg aus allem Leid der Welt, dieeinzige VerheiÃung, eines Tages so etwas wie innere Ruhe zu finden. Diese Ãhnlichkeit der beiden Frauen verblüfft ihn. Sophie ist perfekt. Mit Sophie treibt er den Teufel aus, sie wird wundervoll sterben. Frantz wird viel weinen. Er wird sie sehr vermissen. Sehr. Und er wird sehr unglücklich sein, weil er ohne sie gesund werden wird.
Sophie kann Frantz noch durch den dünnen Tränenschleier ansehen, aber sie weiÃ, dass die Tränenflüssigkeit nur kurze Zeit wirkt. Schwer zu sagen, was in ihm vorgeht. Also: hierbleiben, nicht bewegen, ihn machen lassen â¦Â Warten. Er hält sie an der Schulter. Er presst sie an sich, und genau in diesem Moment spürt sie, dass etwas in ihm nachgibt, bröckelt und zerflieÃt. Sie weià nicht, was es ist. Er drückt sie, und sie bekommt Angst, denn sein Blick ist so merkwürdig starr. Man kann fast sehen, wie die
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