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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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funktioniert …
    Kurz, es ist eine Katastrophe. Sie ist nicht zur Arbeit gegangen und hat den ganzen Tag niedergeschmettert herumgehangen, zur großen Aufregung von Vincent, dem sie partout nichts sagen will. Sogar Valérie hat sie lediglich erzählt, dass ihr »etwas Fürchterliches« passiert sei. Die Scham lähmt sie, es ist grauenvoll.
    20. Februar
    Sophie weint die ganze Zeit. Einen Teil des Tages hat sie vor dem Fenster verbracht und unzählige Zigaretten geraucht, ich habe viele Fotos von ihr geschossen. Sie hat das Büro nicht wieder betreten, und ich vermute, dass man sich dort das Maul über sie zerreißt. Ich wette, dass Klatsch und Tratsch Urstände feiern und man vor der Kaffeemaschine Kopien von Sophies Bildern austauscht. Das dürfte auch Sophie vermuten. Ich denke nicht, dass sie zu Percy’s zurückkehren kann. Sicherlich hat sie deshalb so gleichgültig gewirkt, als sie erfahren hat, dass sie von der Arbeit freigestelltwar. Eine Woche. Offensichtlich konnte man den Schaden begrenzen, aber gut, meiner Meinung nach ist das Kind in den Brunnen gefallen … Bei der Karriere verfolgen einen diese Dinge. Jedenfalls sieht Sophie aus wie ausgekotzt.
    23. Februar
    Der Abend hatte bereits begonnen wie eine Falle: Ich musste Andrée abholen, um essen zu gehen. Ich hatte bei Julien einen Tisch reserviert, aber meine unersättlich Verliebte hatte andere Pläne. Als ich in ihre Wohnung kam, fand ich einen gedeckten Tisch vor, für zwei. Die dumme Kuh, die vor keiner Geschmacklosigkeit zurückschreckt, wie ihr Parfüm beweist, hat sogar einen Kerzenständer auf den Tisch gestellt, ein abscheuliches Ding, das sich moderne Kunst nennt. Ich schrie laut auf, aber da ich nun hier war und den Bratenduft roch, war es schwierig, ja gar unmöglich, die Einladung auszuschlagen. Ich protestierte der Form halber und schwor mir, diese Frau nie mehr wiederzusehen. Ich hatte meinen Entschluss gefasst. Dieser Gedanke tröstete mich, und da der runde Tisch Andrée daran gehindert hat, mich anzufassen, wie sie es bei jeder sich bietenden Gelegenheit tut, fühlte ich mich ein wenig geschützt.
    Sie wohnt in einer winzigen Wohnung in der vierten Etage eines alten Hauses ohne jeden Charme. Das Wohn-Ess-zimmer hat nur ein Fenster, aber trotz des oberen Stockwerks ist das Zimmer nicht sehr hell, denn es geht zum Hinterhof. In solchen Wohnungen muss man ständig das Licht brennen lassen, sonst kriegt man Depressionen.
    Wie der ganze Abend, so schleppte sich auch das Gespräch mühsam dahin. Für Andrée bin ich Lionel Chalvin, arbeite in einer Werbeagentur für Immobilien. Ich habe keine Eltern mehr, was es mir, sobald die Sprache auf dieses Thema kommt, dank eines schmerzerfüllten Blickes erspart, über Kindheitserinnerungen zu sprechen. Ich lebe allein und bin, wie dieser Fettmops meint, impotent. Zumindest leide ich unter Potenzstörungen. Ich konnte dieses Thema umschiffen, beziehungsweise auf die lediglich offenkundigen Auswirkungen der Störung lenken. Ich laviere mich so durch …
    Dann drehte sich die Unterhaltung um Ferien und Urlaub. Andrée war letzten Monat ein paar Tage bei ihren Eltern in Pau gewesen, und ich durfte mir Anekdoten über ihren Vater, die Ängste ihrer Mutter und den Blödsinn ihres Hundes anhören. Ich lächelte. Mehr ging wirklich nicht.
    Es war das, was man ein »ausgezeichnetes« Essen nennt. So nennt sie es jedenfalls. Ein solches Prädikat hätte jedoch nur der Wein verdient, aber den wird der Weinhändler für sie ausgesucht haben. Sie versteht nichts davon. Sie hat einen »Haus-Cocktail« gemixt, der so scheußlich schmeckte, wie ihr Parfüm roch.
    Nach dem Essen servierte Andrée, wie befürchtet, Kaffee am Couchtischchen. Als die Kuh sich neben mich setzte, sagte sie mit schmachtender Miene nach einem kurzen Schweigen, das sie wohl für tiefgründig und vielsagend hielt, sie hätte »Verständnis« für meine »Schwierigkeiten«. Das sagte sie mit salbungsvoller Stimme. Ich könnte wetten, dass sie sich über dieses unverhoffte Glück gefreut hat. Offensichtlich hat sie große Lust, dominiert zu werden, denn das dürfte ihr nicht alle Tage passieren, und nachdem sie auf einen Liebhaber getroffen ist, der irgendwelche Potenzschwierigkeiten hat, ist sie endlich auch mal zu etwas gut.
    Ich gab mich zerknirscht. Schweigen trat ein. In solchen

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