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Der kalte Hauch der Angst

Der kalte Hauch der Angst

Titel: Der kalte Hauch der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Lemaitre
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öffnet sie ihre Zimmertür und geht auch durch den Flur, am Schwesternzimmer vorbei, doch kurz vor der Flügeltür biegt sie zügig nach rechts und geht die Treppe hinunter. In wenigen Minuten wäre sie auf dem Parkplatz. Sie drückt ihre Tasche an sich. Sie beginnt, »6.7.5.3.« vor sich hin zu sagen.
    Gendarm Jondrette: gelbes Gesicht, grauer Schnauzbart. Er wird von einem Kollegen begleitet, der nichts sagt; konzentriert und bekümmert starrt er auf seine Füße. Frantz hat den beiden Kaffee angeboten. Sie sagten, ja, Kaffee, warum nicht?, aber sie tranken ihn im Stehen. Jondrette ist ein mitfühlender Gendarm. Er spricht von Sophie als von »Ihrer Gattin«, und sagt nichts, was Frantz nicht bereits wüsste. Der sieht die Gendarmen an und spielt seine Rolle. Seine Rolle ist, besorgt zu sein, und das ist nicht schwer, weil er wirklich besorgt ist. Er sieht sich wieder vor dem Fernseher. Er mag Quizsendungen, denn er gewinnt mit Leichtigkeit, auch wenn er immer ein wenig schummelt. Applaus, ausuferndes Geschwätz des Moderators, blöde Witze, Lachen aus dem Off, Ausrufe bei den Antworten, das macht viel Lärm, so ein Fernseher. Jedenfalls hat Sophie in aller Stille gehandelt. Selbst wenn er zu diesem Zeitpunkt etwas anderes getan hätte … Fragen aus dem Bereich Sport. Er und Sport! Aber er hat es versucht. Fragen zu den Olympischen Spielen, so ein Zeug, das keiner weiß, außer ein paar neurotischen Experten. Erhat sich umgedreht, Sophies Kopf lag auf dem Wannenrand, ihre Augen waren geschlossen, der Schaum reichte ihr bis ans Kinn. Sie hat ein schönes Profil. Auch wenn sie so mager geworden ist, ist Sophie immer noch hübsch. Wirklich sehr hübsch. Das denkt er oft. Als er sich wieder vor den Fernseher gesetzt hat, sagte er sich, dass er dennoch auf sie aufpassen muss: Letztes Mal ist sie in der Wanne eingeschlafen und war ganz ausgekühlt, er musste sie ein paar Minuten lang mit Eau de Cologne abreiben, bis sie wieder Farbe bekam. Das ist keine Art zu sterben. Komischerweise hatte er eine Antwort gewusst, den Namen eines bulgarischen Stabhochspringers, und … plötzlich setzte sein innerer Alarm ein. Er drehte sich um. Sophies Kopf war nicht mehr zu sehen, er stürzte ins Bad. Der Schaum war rot, und Sophie war in der Wanne ganz nach unten gerutscht. Er schrie auf: »Sophie!« Er streckte die Arme ins Wasser und zog Sophie an den Schultern heraus. Sie hustete nicht, atmete aber noch. Ihr ganzer Körper war leichenblass, und aus ihren Handgelenken lief immer noch Blut. Nicht viel. Aber es kam in kleinen Wellen, im Takt ihres Herzschlags, die Wunde war im Wasser aufgequollen. Kurz stieg Panik in ihm auf. Er wollte nicht, dass sie stirbt. Er sagte sich: »Nicht so …« Er wollte nicht, dass Sophie ihm entkam. Diesen Tod hatte sie ihm gestohlen. Sie hatte entschieden, wo, wann, wie. Und diese Willensfreiheit erschien ihm wie eine totale Ablehnung all dessen, was er getan hatte, dieser Selbstmord war eine Beleidigung für seine Intelligenz. Wenn Sophie so gestorben wäre, dann hätte er den Tod seiner Mutter nie rächen können. Also zog er sie aus der Badewanne, legte sie auf den Boden, verband ihre Handgelenke mit Handtüchern, redete ununterbrochen auf sie ein, lief ans Telefon, rief den Rettungsdienst. Die Feuerwehr war in knapp drei Minuten da, die Kaserne liegt ganzin der Nähe. Während Frantz auf Hilfe gewartet hat, hat er sich wegen vieler Dinge gesorgt. Die Behörden könnten in ihrem Leben herumstochern, sie könnten Sophies Identität überprüfen, schlimmer noch, sie könnten Sophie verraten, dass er in Wirklichkeit Feldwebel Berg ist und keine einzige Minute seines Lebens Soldat war …
    Als er sie in der Klinik besucht hat, war er erneut im Vollbesitz all seiner Kräfte, spielte seine Rolle wieder perfekt. Er wusste genau, was sagen, was tun, was antworten, wie sich geben.
    Auch seine Wut ist nun wieder zurückgekommen: Sophie ist aus der Klinik geflüchtet, und die Verantwortlichen haben es erst nach sechs Stunden gemerkt! Die Krankenschwester, die ihn anrief, wusste nicht so recht, wie sie es ihm sagen sollte. »Monsieur Berg, ist Ihre Frau zu Hause?« Bei Frantz’ Antwort hat sie sogleich den Rückzug angetreten und den Arzt ans Telefon geholt.
    Seit Sophies Flucht entdeckt wurde, hatte er Zeit zum Nachdenken. Die Gendarmen können in Ruhe ihren Kaffee

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