Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
einen grauweißen Knochen gesehen, der das Fleisch eines Beines durchstoßen hatte. Irgendein Unfall-, Raub- und Vergewaltigungsopfer.
War es da ein Wunder?
Schließlich fand er das »Familienzimmer«. Angeblich diente der Raum dazu, dass Familien in angenehmer Umgebung auf Nachrichten über »einen ihrer Lieben« warten konnten, das hatte jedenfalls die Rezeptionistin gesagt. Doch als er die Tür aufstieß, quollen ihm dichte Rauchschwaden entgegen, und im Hintergrund dudelte ein Automat. In einer Ecke stand ein flackernder Fernseher. Zwei mittelalte Frauen zogen an ihren Zigaretten. Sie blickten kurz auf und widmeten sich dann wieder der Talk-Show, die über den Bildschirm flimmerte.
»Mrs. Ure?«
Die Frauen blickten wieder auf. »Wie ein Arzt sehen Sie nicht gerade aus.«
»Bin ich auch nicht«, sagte er zu der Frau, die gesprochen hatte. »Sind Sie Mrs. Ure?«
»Wir sind beide Mrs. Ure. Schwägerinnen.«
»Mrs. Archie Ure.«
Die andere Frau, die bisher noch nichts gesagt hatte, stand auf. »Das bin ich.« Sie bemerkte, dass sie ihre Zigarette noch in der Hand hielt, und drückte sie aus.
»Ich bin Inspektor Derek Linford. Ich würde gerne ein paar Worte mit Ihrem Mann sprechen.«
»Dann reihen Sie sich gefälligst in die Schlange ein«, sagte die Schwägerin.
»Tut mir Leid… Ist es ernst?«
»Herzprobleme hat er schon seit langem«, sagte Archie Ures Frau. »Aber das hat ihn nie daran gehindert, sich politisch zu engagieren.«
Linford nickte. Er war gut vorbereitet, wusste alles über Archie Ure: Vorsitzender des Planungsausschusses im Stadtrat, dem er seit über zwanzig Jahren angehörte. Ein Labour-Mann von altem Schrot und Korn, beliebt bei denen, die ihn kannten, aus Sicht der »Reformer« allerdings nicht selten ein Störenfried. Vor etwa einem Jahr hatte er mehrere kritische Artikel für den Scotsman geschrieben und war damit in der Partei angeeckt. Dann hatte er Reue gezeigt und als Erster seinen Anspruch auf eine Kandidatur für einen Parlamentssitz angemeldet. Allerdings hatte er offenbar nicht mal im Traum daran gedacht, dass ein Neuling wie Roddy Grieve ihm die Kandidatur vor der Nase wegschnappen würde. Schon im Wahlkampf '79 hatte er sich engagiert. Zwanzig Jahre später hatte man ihm zum Dank die ersehnte Labour-Kandidatur vorenthalten und ihm versprochen, ihn wenigstens ganz oben auf die Liste zu setzen.
»Müssen sie operieren?«, fragte Linford.
»Mein Gott, hör dir das nur an«, sagte die Schwägerin und sah ihn wütend an. »Wie um alles in der Welt sollen wir denn wissen, ob sie ihn operieren? Wir sind doch nur die Angehörigen, wir erfahren doch zuallerletzt, was mit ihm passiert.« Sie stand jetzt ebenfalls auf. Linford wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Beide Frauen waren stattliche Erscheinungen – mit einer unübersehbaren Vorliebe für Zigaretten und Fett, die beiden schottischen Nationalgerichte. Turnschuhe, Jogginghose, dazu passendes YSL-Oberteil, wahrscheinlich ein Sonderangebot oder ein Imitat.
»Ich wollte eigentlich nur wissen…«
»Was wollen Sie wissen?« Jetzt sprach wieder die Ehefrau, die sich inzwischen ebenfalls in eine gehörige Wut hineingesteigert hatte. Sie verschränkte die Arme. »Was wollen Sie von Archie?«
Ich möchte ihm nur ein paar Fragen stellen, weil er zum weiteren Kreis der Verdächtigen gehört. Nein, das konnte er nicht sagen. Also schüttelte er den Kopf. »Das hat Zeit.«
»Sind Sie vielleicht wegen Roddy Grieve hier?«, fragte sie. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »So absurd es für Sie auch klingen mag. Dieser Roddy Grieve ist der Grund, weshalb Archie überhaupt hier ist. Und seiner Huren-Witwe können Sie ausrichten, dass sie daran denken soll. Und wenn mein Archie… wenn er…« Sie ließ den Kopf hängen und fing an zu schluchzen. Ein tröstender Arm legte sich um ihre Schulter.
»Keine Sorge, Isla, das kommt schon wieder in Ordnung.« Die Schwägerin sah Linford an. »Und – haben Sie jetzt erreicht, was Sie wollten?«
Er wandte sich schon zum Gehen, drehte sich aber dann nochmals um. »Was soll das heißen, dass Roddy Grieve schuld ist?«
»Nach Grieves Tod ist Archie doch der Nächste auf der Liste.«
»Ja und?«
»Nur dass jetzt die Witwe ihren Namen ins Spiel gebracht hat. Und wer die Mitglieder des Wahlausschusses kennt, der weiß, dass sie die besten Chancen hat. Tja, Isla, zum zweiten Mal beschissen. Wie es war am Anfang, so auch jetzt und in alle Ewigkeit. Alles Beschiss – bis zum bitteren
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