Der kalte Hauch der Nacht - Inpektor Rebus 11
Braes sind es nur fünf Minuten. Vielleicht nicht uninteressant für Sie.«
Er bezweifelte das zwar, doch als sie nun den steilen Weg zu dem Campingplatz hinaufstiegen, fiel ihm etwas anderes aus seiner Kindheit wieder ein: ein tiefes, von Menschenhand geschaffenes Loch, das an den Seiten mit Zement ausgekleidet war. Es hatte sich direkt neben dem Weg befunden, und er war immer ganz vorsichtig daran vorbeigegangen, um nicht hineinzufallen. Vielleicht eine Art Schleuse? Er erinnerte sich noch, dass Wasser darin geplätschert hatte.
»Mein Gott, das Loch ist ja immer noch da!« Er stand davor und blickte hinein. Das Loch war inzwischen eingezäunt und wirkte nicht einmal mehr halb so tief wie früher. Trotzdem bestand kein Zweifel: Es war dasselbe Loch. Er sah Billie Collins an. »Als Kind bin ich vor Angst fast gestorben, wenn ich hier vorbeigehen musste. Auf der einen Seite die Klippen und auf der andern Seite dieses Loch da. Hat mich jedes Mal irrsinnige Überwindung gekostet, diesen Weg zu nehmen. Regelrechte Albträume hab ich deswegen gehabt.«
»Kaum zu glauben.« Sie wirkte nachdenklich. »Oder vielleicht doch.« Sie ging weiter.
Mit ein paar raschen Schritten holte er sie wieder ein. »Und wie ist Peter mit seinem Vater zurechtgekommen?«
»Tja, wie kommen Väter und Söhne schon miteinander aus?«
»Haben sie sich gelegentlich gesehen?«
»Ich habe Peter wenigstens nicht daran gehindert, seinen Vater zu besuchen.«
»Das war eigentlich nicht meine Frage.«
»Mit einer anderen Antwort kann ich nicht dienen.«
»Wie hat Peter reagiert, als er vom Tod seines Vaters erfahren hat?«
Sie blieb abrupt stehen und sah ihn an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Komisch, ich frage mich die ganze Zeit, was Sie nicht sagen wollen.«
Sie verschränkte die Arme. »Also, dann befinden wir uns in einer ziemlich unangenehmen Situation, oder sehen Sie das anders?«
»Ich möchte doch nur wissen, ob die beiden sich verstanden haben, das ist alles. Weil Peter nämlich ein Lied über seinen Vater geschrieben hat, und der Song heißt: ›Die reinste Qual‹. Was nicht unbedingt auf Friede, Freude, Eierkuchen schließen lässt, wenn Sie mich verstehen.«
Sie waren jetzt oben am Ende des Weges angelangt. Vor ihnen standen mehrere Reihen Wohnwagen. Die Fenster schienen auf wärmeres Wetter zu warten, auf randvolle Gasflaschen und auf gut gelaunte Feriengäste.
»Hier haben Sie also früher Ihre Ferien verbracht?«, sagte Billie Collins und sah sich um. »Sie Ärmster.« Sie sah nur die hässliche Anlage und die abweisende Nordsee, doch die schönen Tage, die er hier erlebt hatte, die sah sie natürlich nicht.
»›Die reinste Qual‹«, sagte sie wie zu sich selbst. »Deutliche Worte, nicht wahr?« Sie sah ihn an. »Ich habe mich jahrelang bemüht, den Clan zu verstehen, Inspektor. Sparen Sie sich die Mühe. Fangen Sie etwas Sinnvolleres mit Ihrer Zeit an.«
»Zum Beispiel?«
»Holen Sie einfach die Vergangenheit zurück und sorgen Sie dafür, dass es diesmal besser läuft.«
»Auch wenn zu Hause in meinem Wohnzimmer ein runder Tisch steht«, sagte er, »so heißt das noch lange nicht, dass ich der große Zauberer Merlin bin.«
Er fuhr auf der Küstenstraße in südlicher Richtung nach Kirkcaldy und legte in Lundin Links einen Zwischenstopp ein, um zu Mittag zu essen. Das dortige Old Manor Hotel gehörte dem Vater eines Stammgastes aus der Oxford Bar. Rebus hatte ihm schon seit einer Weile einen Besuch versprochen. Er aß zuerst eine East-Neuk-Fischsuppe und dann einen einfach zubereiteten frisch gefangenen Fisch. Dazu trank er Mineralwasser und versuchte, nicht an die Vergangenheit zu denken – weder an seine eigene noch an die anderer Leute. Hinterher führte George ihn ein bisschen herum. Von der Hauptbar aus bot sich ihm ein überwältigender Ausblick: ein Golfplatz und dahinter bis zum Horizont nichts als Meer. Als plötzlich die Sonne durchbrach, strahlte Bass Rock wie ein Klumpen aus weißem Gold.
»Spielst du eigentlich?«
»Was?« Rebus blickte noch immer aus dem Fenster.
»Golf.«
Rebus schüttelte den Kopf. »Hab ich früher mal versucht. Hoffnungslos.« Er wandte mit Mühe die Augen von dem herrlichen Ausblick ab. »Wie kannst du nur im Ox rumhängen, wenn du zu Hause so etwas hast?«
»Ich trinke nur abends, John. Und im Dunkeln kannst du da draußen nichts erkennen.«
Recht hatte er. In der Dunkelheit war es manchmal sogar unmöglich, die eigene Hand vor Augen zu sehen. Die Dunkelheit
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