Der Kalte Krieg 1947-1991 - Geschichte eines radikalen Zeitalters
morgens im Rahmen einer Übung eine Atlas-Interkontinentalrakete auf dem Stützpunkt Vandenberg in Kalifornien gestartet. Der Start dieser nicht mit Atomsprengköpfen ausgestatteten Rakete in der zweithöchsten Alarmphase (DEFCON 2) hatte wahrscheinlich nur deshalb keine gravierenden Folgen, weil die Sowjets ihn nicht bemerkten. Nur einen Tag später, an dem berüchtigten «Schwarzen Samstag» der Krise um Kuba, wurde durch eine - wie es später im Untersuchungsbericht hieß - «verwirrte» Bedienmannschaft in der Frühwarnstation Moorestown im US-Bundesstaat New Jersey der Start einer angreifenden sowjetischen Rakete gemeldet. In der Folge gingen sowohl das Nordamerikanische Luftverteidigungssystem NORAD in Colorado Springs, das SAC in Omaha/Nebraska und das Pentagon in Washington zunächst von einem sowjetischen Angriff auf die Vereinigten Staaten aus. Erst die erneute Überprüfung durch andere Stationen korrigierte die Meldung und führte zum Abbruch des bereits ausgelösten Alarms. Ähnliche Fehlmeldungen wurden auch in den siebziger und achtziger Jahren immer wieder in den USA ausgelöst und betrafen nicht zuletzt das NORAD selbst, wo die Computer am 3. und dann noch einmal am 6.Juni 1980 von einem sowjetischen Raketenangriff ausgingen. Auch in der Sowjetunion gab es diese Zwischenfälle. Am 26. September 1983 registrierte zum Beispiel die bei Moskau gelegene Station der Landesverteidigung, Serpu-chow-15, einen massiven Angriff mit Interkontinentalraketen. Da dort jedoch die - dann ausbleibende - Bestätigung der Satellitenmeldung durch die Bodenstation abgewartet wurde, klärte sich der Irrtum auf, bevor sowjetische Raketen abgefeuert wurden. Der zuständige Offizier Stanislaw Petrow erhielt dafür über zwanzig Jahre später den «Weltbürgerpreis» der amerikanischen Association of World Citizens «für die Verhinderung des III. Weltkrieges». 65 In den achtziger Jahren bereitete neben fehlerhaften Computersystemen vor allem das Eindringen von sogenannten Hackern Probleme. Computerspezialisten konnten zum Beispiel in den Jahren 1986 und 1987 über das Internet in wissenschaftliche Rechner des amerikanischen Lawrence Berkeley Laboratory eindringen und erhielten damit auch Zugriff auf militärische Systeme. Solche Vorfälle, die immer die Gefahr beinhalteten, daß die militärische Lage eskalierte, wurden auch in Spielfilmen verarbeitet, so etwa im US-Streifen War Games. Insofern gehörte der Umgang mit solchen Alarmmeldungen schließlich auch zum Alltag des Dauerkonflikts Kalter Krieg.
6. Gesellschaften im Dauerkonflikt
Sich einrichten im Kalten Krieg
Der Kalte Krieg mit seinem kontinuierlichen Bedrohungsszenario und seinen Wellenbewegungen von temporär an- und wieder abschwellenden Krisen an unterschiedlichen Orten auf dem gesamten Globus war Alltag und Normalität eines Großteils der Erdbevölkerung für etwa 45 Jahre. Entsprechend richteten sich die unterschiedlichen Gesellschaften in ihm ein. Der Kalte Krieg war selbst in seinen Zentren keineswegs nur durch andauernde Besorgnisse oder gar kontinuierliche Hysterie gekennzeichnet. Normal waren schließlich vielmehr das überwiegende Arrangement mit den anscheinend nicht zu verändernden Tatsachen und die mehrheitliche Verdrängung seiner bedrückendsten Realitäten -jedenfalls so lange, bis diese nicht mehr zu ignorieren waren. Selbst für die Zeit des Zweiten Weltkriegs kann man zeigen, daß große Teile der deutschen Bevölkerung das Leben innerhalb der eigenen vier Wände bis zum Beginn der großen Bombenangriffe als weitgehend normal empfanden. 1 Für die amerikanische Zivilbevölkerung, die nach 1941, anders als etwa die sowjetische, keinerlei Bombardierungen ihrer Städte erlebte, blieb der Zweite Weltkrieg bis zum Ende weit entfernt und rückte jeweils nur in den Berichten der Medien oder der zurückkehrenden Soldaten näher. Den Willen zu Arrangement und Verdrängung konnte man im Kalten Krieg sowohl in bezug auf die globale atomare Bedrohung als auch in der inneren Verfaßtheit der Gesellschaften auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs beobachten. Sie reagierten trotz ihrer diametral unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen im Alltags- und Krisenbewußtsein ausgesprochen ähnlich. Den verschiedenen Eskalationen auf internationaler Ebene trat die Mehrzahl der Menschen im Westen wie im Osten mit einem Willen zur Erhaltung der eigenen Normalität entgegen, der allerdings hin und wieder von den Krisen des Kalten Krieges eingeholt wurde.
Die
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