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Der kalte Kuss des Todes

Der kalte Kuss des Todes

Titel: Der kalte Kuss des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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sein Vater sei, Wladimir Kirillowitsch, und warum man ihn nicht am Tisch sähe.
    »Er fühlt sich nicht wohl. Wahrscheinlich kommt er etwas später«, lautete die Antwort.
    Bevor alle ins Esszimmer gingen, hatte es einen Zwischenfall gegeben, der deutlich zeigte, wie schwierig das Verhältnis zwischen den Zwillingen und ihrem jüngeren Bruder Iwan war. Aus dem Fenster hatte Katja gesehen, wie Iwan mit dem Auto zur Datscha gebracht worden war. Offenbar hatten Freunde ihn hergefahren, doch sie wurden nicht ins Haus gebeten. Iwan stieg die Treppe zur Veranda hinauf, warf seine Sporttasche aufs Sofa und wollte schon das Esszimmer betreten, als Stepan ihn packte und ihn brüsk zu sich heranzog.
    »Geh erst mal unter die Dusche«, befahl er.
    »Lass mich in Ruhe.« Der Junge versuchte sich loszureißen.
    »Tu, was ich dir sage. Nimm Schwamm und Bürste, und schrubb dir die Viren deiner aidsverseuchten Freunde vom Leib.«
    »Stepan, bitte nicht heute, an einem solchen Tag!« Lisa kam herbei und zupfte ihren Verlobten erschrocken am Ärmel. »Warum setzt du ihm so zu? Geh schon, Iwan. Die Oma hat nach dir gefragt. Geh!«
    »Lass meine Freunde aus dem Spiel!« Iwan schrie so laut, dass man auf ihn aufmerksam wurde. »Es geht dich nichts an, wer bei uns mit wem befreundet ist, wer mit wem schläft und wie!« Er machte sich mit einem Ruck los und stürmte die Treppe hinauf in den ersten Stock.
    Es war bereits eine ganze Reihe ergreifender Trinksprüche auf das Gedächtnis des Verstorbenen ausgebracht worden. Erwähnt wurden jedoch nur die guten Taten und Eigenschaften, wie es Sitte ist. Zuerst ergriffen Verwandte das Wort, dann ein berühmter Drehbuchautor, ein greiser Schriftsteller und schließlich eine gebrechliche, aber immer noch kokette Sängerin. Zum Schluss erhob sich Waleri Kirillowitsch, sichtlich schwankend. Katja war bereits aufgefallen, dass der Fassbinder-Schüler unmäßig dem Alkohol zusprach und rasch betrunken wurde, ungeachtet der flehentlichen Gesten seiner ausländischen Frau.
    »So, Kinder, und jetzt sein Lieblingsstück. Stepan, trag seine Lieblingsverse vor«, verlangte der Regisseur.
    Stepan stand langsam auf. Katja war wütend auf sich selbst, denn beim Essen hatte sie immer nur ihn ansehen müssen, doch sie konnte nicht anders. Dieser Mann zog sie genauso an, wie er sie abstieß. Er prügelte seine Kameraden blutig und flößte allen Entsetzen ein, aber er war auch verteufelt attraktiv: groß, kräftig, breitschultrig und mit stolzer, aufrechter Körperhaltung.
    Stepan schenkte sich einen Wodka ein. Er trank nicht viel. Auch gegessen hatte er wenig – eigentlich hatte er nur mit der Gabel in Salat und Gemüse gestochert und die Fleisch-und Fischgerichte, unter denen der Tisch sich bog, gar nicht angerührt.
    »Also, Großvater, wir wünschen dir gute Reise in eine bessere Welt. Und Frieden. Um uns brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Bei uns wird alles gut.« Mit einem Zug leerte er sein Glas.
    »Gott sei mit dir auf der letzten Reise,
Kommst ans Ziel, ist auch der Weg wohl weit,
Mond und Sterne leuchten dir durchs Dunkel,
Hast geleert den Kelch der Lebenszeit.«
    Er zitierte das »Totenlied« aus den »Liedern der Westslawen«. Katja hätte es nicht für möglich gehalten, dass man ein Gedicht von Puschkin so vortragen konnte.
    »Sanfter als das Fieber war die Kugel,
Und du starbst so wie du lebtest: frei. . .
Und die nass geschwitzten Flanken
Deckt er mir mit deiner Haut. . .«
    Als er geendet hatte, schwiegen alle einige Sekunden.
    »Ja, da spürt man die große Schule«, bemerkte der angetrunkene, melancholisch gewordene alte Drehbuchautor. »Da spürt man die edle Herkunft.«
    »Das Slawentum . . . unser Schmerz . . .« Waleri Kirillowitsch erhob sich schwankend. »Vater war ein weiser Mann. Schon vor zehn Jahren hat er uns gewarnt, aber wir wollten nicht auf ihn hören. Jetzt haben wir die Quittung bekommen. Unser Imperium ist zusammengebrochen. Zerfall, Zerrüttung, Korruption, Krieg, nichts als Chaos und Schmutz . . . sei still, Magda!«, herrschte er seine Frau an, die irgendetwas auf Deutsch gesagt hatte. »Was verstehst du schon von unserem Schmerz?«
    Eine lautstarke Diskussion über Politik begann. Katja hielt Ausschau nach Lisa – sie hatte sich doch einen Rat von ihr holen wollen. Doch die Freundin ging ganz in ihrer Rolle als Gastgeberin auf.
    »Na, Katja, hat es Ihnen bei Stepan gefallen? Sergej hat mir gerade von euren Abenteuern erzählt.« Sie drehte sich um – hinter ihr

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