Der kalte Kuss des Todes
stand Dmitri mit einem Schälchen Erdbeeren. »Bitte, bedienen Sie sich.«
»Es hat mir überhaupt nicht gefallen.« Katja ging ins Wohnzimmer, und er folgte ihr. Auch dieser Raum war so altmodisch und schlicht eingerichtet wie alle anderen auf der alten Datscha: dunkle Eichenholzmöbel aus den Fünfzigerjahren, ein Ledersofa mit Sesseln vor dem backsteinummauerten Kamin, an den Wänden unzählige Fotos. Die meisten zeigten Basarow bei den Dreharbeiten zu seinen Filmen, mal mit dem Megafon des Regisseurs in der Hand und einer schräg bis aufs Ohr geschobenen Baskenmütze, mal auf der Kameraplattform zusammen mit dem Kameramann, mal Arm in Arm mit bekannten Schauspielern, mal am Schreibtisch mit einer Pfeife im Mund. Der einzige exotische Gegenstand in diesem halbdunklen Zimmer war ein abgewetztes Bärenfell auf dem Fußboden.
»Ihr Bruder ist ein seltsamer Mensch, Dmitri«, sagte Katja nachdenklich. »Sie sehen ihm sehr ähnlich, das gleiche Gesicht, und trotzdem . . . Die Verse, die er eben vorgetragen hat, waren wunderbar und gleichzeitig schrecklich. › Deckt er mir mit deiner Haut . . . ‹ Ich habe früher nie auf den Schluss dieser Ballade geachtet. Das Original stammt doch von Mérimée, nicht wahr?«
»Ja. Mein Großvater wollte einen Film drehen, in dem sich Motive aus der › Guzla ‹ und aus der Legende vereinigten, die Mérimé in › Lokis ‹ erzählt. Er hat uns immer von der › Bärenhochzeit ‹ vorgeschwärmt – das ist ein alter Stummfilm aus den Zwanzigeijahren. Kennen Sie ihn?«
In diesem Moment kam Anna Pawlowna, die Räder ihres Rollstuhls mit den Händen drehend, ins Zimmer gefahren.
»Gib mir das Telefon, Dmitri«, befahl sie mit knarrender Stimme. »Ständig versteckt man es vor mir. Was ist das für ein nettes junges Mädchen? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«
Katja wurde ein zweites Mal vorgestellt, diesmal als »Verwandte von Andrej Krawtschenko«. Ihr fiel auf, dass Dmitri es diesmal vermied, sie »Wadims Frau« zu nennen.
»Katja interessiert sich für die › Bärenhochzeit ‹ , Oma. Bleiben Sie ein Weilchen bei ihr, bis ich das Telefon gefunden habe«, flüsterte er ihr zu.
»Ein göttlicher Film. Kult, wie man heute sagen würde. Die Malinowskaja hat mitgespielt. . . erinnern Sie sich an sie? Ein Star des Stummfilms. Sie war eine wirkliche Schönheit. Ich sehe sie noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. 1927 haben wir uns bei Janschin kennen gelernt.« Die alte Schauspielerin schmatzte mit den Lippen. »Ich war noch ein ganz junges Mädchen, fing gerade erst beim Film an. Damals schwärmten alle von der › Hochzeit ‹ . Alles wurde neu interpretiert: Mystik, Erotik, der Tiermensch, Liebe und Leidenschaft. . .«
»Hier ist es, ich hab’s gefunden.« Dmitri kehrte zurück und reichte der alten Frau das Handy.
»Was soll ich damit? Ich will niemand anrufen. Lena ist krank, Dolores verreist, und die anderen . . . die können selbst anrufen.« Die Alte machte eine ärgerliche Handbewegung. »Legt mir das Telegramm von Bertolucci auf den Tisch. Lisa kann es mir später aus dem Italienischen übersetzen. Worüber haben wir gerade gesprochen, meine Liebe? Ach ja, der Tiermensch, die Leidenschaften . . . In Mérimées › Lokis ‹ ist vieles nur angedeutet, nicht wahr?«
Katja nickte. Das Geschwätz der alten Frau erinnerte sie an das Zirpen von Zikaden im Gras.
»Das Wichtigste hat er nämlich verschwiegen. › Der Bär hat die Gräfin verschleppt! ‹ Wessen Sohn war der junge Graf denn eigentlich? Der Sohn eines Menschen oder eines Bären? Hat das Tier die entführte Frau vergewaltigt? Mérimée hat es verstanden, über dieses ganze › jouir ‹ , wie die Franzosen es nennen, absichtlich den Schleier des Unausgesprochenen zu legen.« Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Heute würde man sich nicht schämen, eine saftige Sodomieszene ins Drehbuch zu schmieren!«
»Oma!« Dmitri musste grinsen. »Erschreck mir meine Gäste nicht.«
»Mit der Wahrheit, Dmitri, kann man niemanden erschrecken. Alles hat sich geändert. Das Leben ist verronnen wie Sand, der einem durch die Finger rieselt. Kirill ist tot, hat mich verlassen.« Die Greisin schluchzte auf. »Sagt Marussja, sie soll Tee mit Zitrone bringen, seid so gut.«
Dmitri ging mit Katja auf die Veranda.
»Leider ist sie schon völlig verwirrt«, sagte er. »Katja, ich wollte Sie schon die ganze Zeit etwas fragen.« Er stemmte plötzlich einen Arm gegen die Wand und versperrte ihr den Weg. »Sind Sie
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