Der kalte Kuss des Todes
Umgebung anpassen. Der Mensch der Gegenwart hat die Fähigkeit, in der Natur zu überleben, völlig verloren. Und in diesem Survival-Camp hat man es sich zum Ziel gesetzt, solche Fertigkeiten wiederzuerlangen.«
»Ich bin bereit, wir können fahren.« Stepan, nun mit schwarzer Hose und weißem Hemd bekleidet, kam die Vortreppe des Hauses herunter. Katja würdigte er keines Blickes, als wäre sie Luft. Am Hundezwinger hielt ein junger Mann ihren Wagen mit einem Pfiff an, beugte sich auf Basarows Seite zum Fenster hinunter und flüsterte ihm etwas zu. Katja verstand: »Es geht ihm schlecht, offenbar ein Bruch . . .«
»Dann legt ihm eine Schiene an.« Basarow zuckte mit den Schultern. »Er ist selbst schuld. Hat sich decken wollen und den Arm hingehalten.«
Die Rede war offenbar von den beiden Bestraften. Katja begriff: In diesem Survival-Camp war es nicht üblich, sich über Schmerzen und Verletzungen zu beklagen. Mitleid kannte hier niemand.
9 Die Raubtierkrankheit
Die Datscha der Basarows – ein großes, mehrmals umgebautes Haus – lag auf einem weitläufigen Grundstück, das von einer dichten Hecke umgeben war. Im Garten erfreuten lebhafte Farben das Auge: gestutzte Fliederbüsche, sorgfältig angelegte Beete mit einem Teppich aus Margariten, Levkojen, Stiefmütterchen, Narzissen und Tulpen. Diese gepflegte Gartenlandschaft wurde durch Kieswege, Bodenlaternen, zwei Gartenlauben und ein ausgedünntes, von allem Buschwerk befreites Stück ursprünglichen Waldes ergänzt – silbrige Tannen, Linden, Eichen. Vor der Veranda standen schicke Gartenmöbel und Sonnenschirme. Am Tor parkten mehrere ausländische Limousinen.
Die Ankömmlinge wurden auf der Veranda von einer mürrischen älteren Frau mit Brille – offenbar einer Hausangestellten – und von Waleri Basarow empfangen. Katja sah den berühmten Regisseur zum ersten Mal aus der Nähe und war ein wenig befangen. Doch der Fassbinder-Schüler sagte zu allen Gästen nur ein und dieselben freundlich-müden Sätze: »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Treten Sie ein, und erholen Sie sich von der Fahrt.«
Zur Gedächtnisfeier lädt man gewöhnlich die nahen Bekannten und Freunde des Verstorbenen ein, und Katja war ziemlich verwundert, dass unter den Gästen keine Altersgenossen des Toten waren. Die ältere Generation war nur durch seine zweiundneunzigjährige Witwe vertreten, Anna Pawlowna Mansurowa, in vergangenen Zeiten eine berühmte sowjetische Schauspielerin, die in zahllosen Filmen mitgewirkt hatte. Jetzt war diese vertrocknete, geschminkte, gepuderte und mit einer grellbrünetten Perücke gekrönte Alte an den Rollstuhl gefesselt, den sie aber trotz ihres hohen Alters sehr geschickt bediente. Zu ihr führte man die Gäste zuerst.
Lisa flüsterte Katja zu: »Die alte Hexe ist total plemplem, achte gar nicht auf ihr Gefasel.« Anna Pawlowna beklagte sich kokett bei fast jedem Gast: »Er wollte mich verlassen. Das ganze Leben war er ständig hinter anderen Weibern her. . . Wäre er nicht gestorben, hätte er mich bestimmt verlassen. Sogar die Krankenschwester wollte er heiraten . . .«
Auch der verdutzten Katja erzählte die Alte diese Geschichte. Dmitri Basarow, der seiner Großmutter Katja und Sergej mit den Worten vorstellte: »Und das ist die Frau von Wadim, du erinnerst dich sicher, der Sohn von Andrej Krawtschenko. Und das ist der Enkel von Jelena Alexandrowna . . .« Er flüsterte Katja zu: »Arteriosklerose. Kann man nichts machen. Ihr erster Mann war Admiral bei der Flotte. 1945 hat er sie sitzen lassen und eine Krankenschwester aus dem Frontlazarett geheiratet. Jetzt im Alter bringt sie alles durcheinander.«
Um Punkt drei Uhr setzten sie sich an den großen ovalen Tisch. Es waren nicht allzu viele Gäste versammelt: außer Waleri Kirillowitsch, seiner ausländischen Frau – einer Österreicherin oder Schweizerin, die kein Wort Russisch sprach (die Rolle der Dolmetscherin übernahm bereitwillig die allgegenwärtige Lisa) – , der Hausangestellten, den jüngeren Basarows und der übrigen »Jugend« waren nur drei ältere Ehepaare anwesend.
Natürlich, die meisten Altersgenossen des »Patriarchen« liegen längst unter der Erde, dachte Katja, und die, die noch leben, sind Ruinen wie seine Frau und schaffen es gar nicht mehr bis hierher.
Das Wort ergriff nun Waleri Kirillowitsch, der als Gastgeber am Kopfende des Tisches saß. Er hielt eine kurze Rede zum Gedenken an den Verstorbenen. Katja fragte leise Dmitri, der neben ihr saß, wo denn
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