Der kalte Kuss des Todes
Elektrogerät. Erzähl mir der Reihe nach, was gestern Abend passiert ist.«
Stotternd und stockend begann Iwan zu erzählen. Brauchbare Informationen musste man ihm allerdings mühsam aus der Nase ziehen.
»Und warum ist dein Vater in den letzten Tagen nicht zur Arbeit gefahren?«, fragte Kolossow.
»Er fühlte sich mies.«
»Er hatte sich wohl erkältet?«
»Nein!« Dieses »Nein« klang so scharf und böse, dass Kolossow begriff: Wenn er jetzt weiterbohrte, würde es wieder einen hysterischen Ausbruch des Jungen geben. Deshalb stellte er rasch eine neue Frage: »Ihr alle – deine Brüder, deine Oma, dein Onkel und diese Lisa – , ihr alle habt euch, wie du sagst, nach dem Abendessen von deinem Vater verabschiedet. Das stimmt doch? Und was hast du anschließend gemacht? Wo warst du?«
»Nichts hab ich gemacht. Ich hab hier gesessen.«
»Hier im Wohnzimmer?« Kolossow schaute zur Tür. »Und du hast nichts gehört? Das Bad ist doch gleich drüben auf der anderen Seite des Flurs.«
Iwan blickte auf den zerbrochenen Walkman. Plötzlich packte er ihn und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen das Fenster. Glas splitterte. In diesem Moment begriff Kolossow.
»Tja, so was kommt vor«, murmelte er leise.
»Mein Vater hat um Hilfe gerufen, und ich . . .«
»Und du hast Filmmusik gehört. Deine Brüder haben die Abwesenheit ihres Vaters zu spät bemerkt, und dein Onkel . . .«
»War betrunken.« Iwan presste die Lippen zusammen. »Dieser jämmerliche Säufer! Eigentlich müsste er morgen zusammen mit Magda zurück nach München, aber jetzt bleibt er, um seinen Kummer zu ertränken.«
»Magda? Ist das seine Frau? Eine Ausländerin?«
»Ja. Und Stepan war sofort nach dem Essen verschwunden. Wahrscheinlich weiß er noch gar nichts.«
»Stepan ist dein ältester Bruder?«
»Ich habe zwei älteste Brüder. Zwillinge.« Iwan lächelte verzerrt. »Zwei Bären.«
»Wieso zwei Bären?«
»So hat Oma uns genannt, früher, als Kinder. Die drei Bären – wie in dem Märchen.«
»Ah, ich verstehe. Eure Großmutter habe ich bereits kennen gelernt. Der Schmerz hat sie offenbar völlig verwirrt.«
»Ach, die ist schon seit zehn Jahren nicht mehr richtig im Kopf. In unserer reizenden Familie schnappen alle in regelmäßigen Abständen über. Jeder hat seine Macke.«
»Du sprichst nicht gerade freundlich von deinen Angehörigen, Iwan«, meinte Kolossow. »Dabei hast du jetzt praktisch nur noch deine Brüder.«
»Diese Bastarde brauche ich nicht.« Iwan wischte sich mit dem Ärmel die Tränen weg. »Ich hätte nicht gedacht, dass es mit Vater so schnell passieren würde . . .«
»Dass was so schnell passieren würde?« Kolossow sah ihm in die Augen.
Iwan wandte sich ab und schwieg. Kolossow fiel auf, dass der Junge über gewisse Themen nicht sprechen wollte, während er auf andere Dinge sehr ausführlich einging, wobei er manchmal gehässig wurde, trotz seines aufrichtigen Kummers.
»Kannst du dich nicht doch genauer daran erinnern, wer den Rasierapparat zuletzt benutzt hat?«
»Als wir hierher kamen – Dmitri. Aber wir sind ja erst nach Großvaters Beerdigung gekommen. Es waren schon Gäste da, die hier übernachtet haben. Von denen haben sicher auch welche den Apparat genommen.«
»Hat niemand gesagt, dass das Kabel beschädigt war?«
Iwan schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich hab nichts gehört. Ich bin sowieso selten hier. Nur wenn. . .«, er stockte, »nur wenn es sich nicht vermeiden lässt, zum Beispiel zur Gedächtnisfeier. Heute hatte mich mein Vater selbst darum gebeten.«
»Und wie bist du hierher gekommen?«
»Mit der Bahn.«
Kolossow brummte erstaunt. Dass dieses Enfant terrible aus einer solch piekfeinen Familie sich anderthalb Stunden lang in einem schmutzigen Eisenbahnwagen durchrütteln ließ . . .
»Was starren Sie mich so an?« Iwan machte ein finsteres Gesicht. »Ich hab momentan kein Auto. Es wird zurzeit verkauft. Manchmal nehmen meine Freunde mich mit.«
»Diese Amnestiker? Entschuldige, dass ich sie so nenne.«
»Macht nichts. Hier nennt man sie noch ganz anders.« Iwan schlug die Augen nieder. Seine Wimpern waren dicht und samtig, wie bei einem Mädchen.
»Deine Familie ist wohl mit deinen Musikerfreunden nicht einverstanden, wie?«, vermutete Kolossow.
»Sie sind wie Brüder für mich.«
»Ihr wohnt zusammen?«
»Was? Ich . . .ja, wir wohnen zusammen.« Iwan errötete erstaunlicherweise. »Es ist aber nicht so, wie Sie denken.«
»Was denke ich denn?« Kolossow
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